Im März 1964 veröffentlicht das Label Verve ein Meisterwerk des Amerikaners Stan Getz und des kürzlich verstorbenen Brasilianers João Gilberto, der den Bossa-Nova in allen Ecken der Welt populär macht und die Karriere des Saxophonisten in Schwung bringt. Die Platte ist bis heute der Gipfel der Fusion zwischen Jazz und brasilianischer Musik.

Im Jahre 1962 zählt Stan Getz zu den größten Tenor-Saxophonisten seiner Generation, ist 35 Jahre alt, hat um die vierzig Alben zu verzeichnen und eine strahlende Erfolgsbilanz vorzuweisen. Trotzdem scheint er sich von seinem goldenen Zeitalter in kleinen Schritten zu entfernen. Am 13. Februar weiß er noch nicht, dass die Platte, die er gerade in Washington eingespielt hatte, den Kurs seiner Karriere lenken sollte und die Welt des Jazz für immer retten würde. Jazz Samba, gemeinsam mit dem Gitarristen Charlie Byrd komponiert und von den Kontrabassisten Keter Betts und Joe Byrd (Bruder von Charlie) sowie den Schlagzeugern Buddy Deppenschmidt und Bill Reichenbach begleitet, landet ab April in den Verkaufsregalen, an der Spitze der Pop-Charts im September und verlockt zahlreiche Jazzmen wie Sonny Rollins und Coleman Hawkins sich ebenfalls dieser Fusion von Jazz und brasilianischer Musik zu widmen, allen voran dem Bossa-Nova und dem Samba. Wie aber hatte Getz, Star des West Coast Jazz der 50er Jahre, die Idee, die “Blue Note” mit diesen südamerikanischen Klängen zu würzen?

Nachdem er sich in den renommiertesten Jazzbands der damaligen Zeit bewiesen hat (Stan Kenton, Jack Teagarden, Jimmy Dorsey, Benny Goodman, Woody Herman), nimmt Stan Getz zwei Jahre später (seit 1950 unter seinem eigenen Namen) seine ersten Soloalben auf und wird von Verve unter der Leitung von Norman Granz unter Vertrag genommen. Sein flüssiger und warmer Sound setzt sich schnell fest und die Sessions reihen sich aneinander, begleitet von seinem stetig ansteigenden Heroinkonsum. Die 50er Jahre sind sowohl sein künstlerischer Höhepunkt, als auch der Gipfel seiner Popularität, denn er nimmt Alben auf mit allem, was Rang und Namen hat: Chet Baker, Lionel Hampton, Sonny Stitt, Gerry Mulligan, Horace Silver, Oscar Peterson, Roy Haynes, Al Haig, Dizzy Gillespie, Herb Ellis, Ray Brown, Max Roach etc... 1958 tourt Getz durch Europa und ist sogar am Soundtrack von Die sich selbst betrügen von Marcel Carné mit Jean-Paul Belmondo beteiligt. 1961 veröffentlicht er Focus, eine in ihrer Form und von Grund auf besondere Platte, jedoch ohne Zweifel, eine der überzeugendsten Begegnungen zwischen Jazz und Streichern. Ursprung dieser Platte - Komposition und Arrangements - ist das Werk eines gewissen Eddie Sauter. Ein großer Bartók-Fan, der nicht nur orchestrierte Lieder komponiert, sondern wahre Stücke für Geige, teilweise sehr avantgardistisch für diese Epoche, bei denen er gerade so viel Platz lässt, dass sich ein Saxophon in seiner ganzen Freiheit ausleben kann… Vier Monate später, im November 1961, zurück vom alten Kontinent, ist Stan Getz Teil eines neuen Quartetts (mit Steve Kuhn, John Neves und Roy Haynes) - eine modernere und agressivere Formation, die sicherlich vom John Coltrane Quartet beeinflusst war, in dem Kuhn vorher spielte - und mit diesem wieder auf der Bühne des Village Vanguard. Eine gewagte künstlerische Leitung, zukunftsorientiert und ohne Abstriche, die als Ergebnis den Erfolg von Jazz Samba zu verzeichnen hat...

Wieso also der Bossa? Diese Schwärmerei für einen Stil, der man als exotisch bezeichnete, hatte nichts Überraschendes. Zu Beginn der 1960er Jahre waren die Meister des Great American Songbook wie Cole Porter, Jerome Kern oder Irving Berlin nicht mehr besonders aktiv und schienen nicht mehr von dieser Welt zu sein. Der Erfolg des aufkommenden Rock’n’Roll ging mit großen Schritten voran. Die Albenverkäufe purer Jazzalben gingen langsam in die Knie und einige Jazzclubs schlossen ihre Türen. Kurz, dieses Musikgenre, das eine solide Basis an Fans vorzuweisen hatte, verlor den Boden des großen Publikums unter den Füßen. Dank der brasilianischen Songwriter wie Antonio Carlos Jobim oder Luiz Bonfá entstand für den Bossa der Vorteil, ein melodisch begeisterndes und rhythmisch subtiles Repertoire hervorzubringen. Der wahre Handwerker dieser süßen Revolution heißt nicht etwa Stan Getz, sondern Charlie Byrd. Als gelernter klassischer Gitarrist und Schüler des großen Andrés Segovia widmet sich der in Virginia Geborene früh dem Jazz. 1959 tritt er dem Orchester von Woody Herman bei, spielt aber in seinen eigenen Formationen, in denen er auf seinen Bruder Joe sowie weitere Jazzmen wie Vince Guaraldi oder Nat Adderley trifft. Nach einer Südamerika-Tournee, bei der er amerikanische Diplomaten begleitet, verliebt sich Byrd in den Charme der brasilianischen Musik:

“Ich liebte den Stil und das klangliche Spektrum des Bossa-Nova, denn er lässt mehr als andere lateinamerikanische Musikformen ausreichend Raum, sodass sich die Gitarre gut integrieren lässt. Es gab einen bemerkenswerten Unterschied des Ansatzes des Kubaners Xavier Cugat, zum Beispiel. Er hatte eine so feinfühlige und leichte Art zu spielen. Und dann diese unglaublichen Melodien von Jobim und Bonfa...“

Zurück in den Vereinigten Staaten, gründet Charlie Byrd ein Duo mit einem anderen Gitarristen, Herb Ellis, mit dem er das brasilianische Repertoire aufarbeitet, ohne aber damit ein Label überzeugen zu können. Einige Wochen später lädt er Stan Getz zu sich ein, um ihm Platten von João Gilberto und Antonio Carlos Jobim vorzuspielen, die er von seiner Rundreise mitgebracht hat. Das Duo ist sich einig, diese kleinen Wunder neu zu arrangieren und Creed Taylor zu überzeugen, sie für Verve zu produzieren. Die Aufnahmesession findet in einem angrenzenden Gebäude in der All Souls Unitarian Church in Washingto statt, einem Saal mit ausgezeichneter Akustik. Mit dem mythischen Desafinado von Jobim als Opener erreicht Jazz Samba den ersten Platz in den Pop-Charts im März 1963! Es ist faszinierend, diesen weichen und runden Klang von Getz Tenor-Saxophon zu hören, das häufig so lyrisch klingt, dabei ohne Exzesse auskommt und das sich diese Songs auf so liebliche und starke Weise zu eigen macht. So, als ob der Cool Jazz, als dessen Botschafter man es bezeichnen könnte, das perfekte Genre ist, um sich mit dem Bossa Nova zu verbrüdern...

Verve schickt mit Getz im August 1962 sein bestes Pferd im Stall ins Studio. Dieses Mal mit dem Orchester von Gary McFarland. Ohne Byrd, aber immer noch mit Creed Taylor hinter der Konsole: So vermischen sich auf Big Band Bossa Nova die Themen von Bonfa, Jobim und João Gilberto mit den originellen Kompositionen von McFarland. Vor allem mit dem Trompeter Clark Terry, dem Posaunisten Bob Brookmeyer, dem Gitarristen Jim Hall und dem Pianisten Hank Jones, hat diese zweite brasilianische Platte von Stan Getz den Vorteil, nicht nur eine Folge des ersten Albums zu sein, sondern das Repertoire mit seinen dynamischen Arrangements zu modernisieren. Am 21. November, gibt die Carnegie Hall das erste Konzert unter dem Titel “New Brazilian Jazz”, eine Art Marketing-Format, um gewissermaßen noch einen drauf zu setzen. Die populäre brasilianische Musik erreicht die mythische Szene New Yorks, der Hauptstadt des Jazz mit Stan Getz, João Gilberto, Antonio Carlos Jobim, Luiz Bonfá, Gary McFarland, Sérgio Mendes, Lalo Schifrin und Bola Sete. Fünf Monate später greift Jazz Samba Encore!, das während der Sessions im Februar 1963 aufgenommen wurde, noch einmal die gedämpfte Stimmung des Hits Jazz Samba auf. Byrd wurde von Luiz Bonfa höchstpersönlich abgelöst (als Co-Writer auf dem Booklet angegeben), der für den Großteil der Kompositionen verantwortlich ist. Und um diese brasilianische Power noch zu verstärken, sind auch Jobim und María Toledo, die Frau von Bonfa, mit von der Partie! Aber der größte Traum von Creed Taylor war es, auf einem Album Stan Getz und João Gilberto zu vereinen. Eine Union, die sich am 18. und 19. März 1963 in den A&R Recording Inc. Studios in New York zusammen schließt: Phil Ramone, Besitzer der Studios und Toningenieur der Session, und Creed Taylor, der seine Kapitänsbinde als Produzent anbehält; Jobim am Klavier, Milton Banana am Schlagzeug und Sebastião Neto am Kontrabass; sogar Tommy Williams, üblicher Bassist von Getz taucht im Booklet auf. Und das i-Tüpfelchen ist Astrud Gilberto, die Stimme der Hits Girl From Ipanema und Corcovado. Wie auch bei ihrem Mann João ist ihr Organ von einer umwerfenden Süße geprägt, das einem Flüstern nahekommt. Alles ist hier rein, minimalistisch und frei.

“Es handelte sich um meine erste professionelle Aufnahme. Ich war sehr jung, verheiratet mit João und wir haben gemeinsam vor unseren Freunden gesungen… Am Anfang habe ich ihn mit in die Vereinigten Staaten begleitet, um für ihn zu übersetzen und um ihm zu assistieren. Am Vortag der Proben kam Stan Getz zu unserem Hotel und João sagte mir: ‘Ich habe eine Überraschung für dich.’ Während er mit Stan sprach, übersetzte ich seine Worte und João sagte: ‘Ich denke Astrud kann für die Aufnahme singen.”

Eine andere Version der Geschichte von Stan Getz, einige Jahre später: “Gilberto und Jobim wollten sie nicht haben. Astrud war keine professionelle Sängerin, sondern eine Hausfrau. Aber als ich eine Übersetztung brauchte und sie Ipanema und Corcovado sang, gefielen mir ihre schönen englischen Worte sehr. Sie klang gut genug, um auf einer Platte zu singen.”

Dem Journalisten und großen Spezialisten des Bossa Nova, Ruy Castro zufolge, verliefen die Aufnahmen nicht so friedlich, die Wogen zwischen Stan Getz und João Gilberto schienen sich nicht zu glätten. Man munkelt sogar, dass der Brasilianer, der kein Wort Englisch sprach und dem der rhythmische Stil des Amerikaners nicht zusagte, zu Jobim gesagt habe: “Sag diesem Gringo, dass er ein Idiot ist!” Was der Pianist wohl so formuliert habe: “Stan, João sagt, dass sein größter Wunsch schon immer gewesen sei, mit dir aufzunehmen.”

Creed Taylor hingegen erzählte, dass Getz und Jobim zwei eher einfache Musiker ohne überschäumende Egos seien. Für ihn lag das Problem vor allem bei Gilberto: “Es war die Hölle, ihn ins Studio zu bekommen. Er blieb stets in seinem Hotelzimmer eingesperrt. Ich glaube, er hatte etwas Platzangst und es waren viel zu viele Leute für ihn und er hatte Angst, zu uns zu kommen. Man muss sich bei Monica, der Frau von Stan bedanken, die ihn aus seinem Zimmer gezerrt hat, um ihn ins Studio zu bringen! Als er einmal angekommen war, setzte er sich und spielte.”

Diese Streitigkeiten hinderten Getz/Gilberto aber nicht daran, eines der meistverkauften Jazzalben der Welt zu werden. Für Getz/Gilberto #2, das im April 1966 veröffentlicht und am 9. Oktober 1964 aufgenommen wurde, entschieden sie sich für die Live-Aufnahme aus der Carnegie Hall, mit der A-Seite von Getz’ Quartet und B-Seite von Gilbertos Trio...

Im März 1963 surft das Album Stan Getz with Guest Artist Laurindo Almeida immer noch auf dieser Modewelle, die ab Dezember 1964 mit Getz letztem Opus der brasilianischen Stunde, Getz au Go-Go, abebbt. Es handelt sich um ein Live-Album der New-Yorker Konzerte mit Astrud Gilberto auf 6 Titeln, Kenny Burrell an der Gitarre, Gene Cherico und Chuck Israels am Kontrabass, Gary Burton am Vibraphon und Joe Hunt und Helcio Milito am Schlagzeug…

Der leichte Tsunami des Bossa-Jazz weht noch seine letzten Stunden. Astrud und João lassen sich scheiden. Und eine Legende besagt, dass die Sängerin und Getz sich nicht nur künstlerisch miteinander vereint haben. Kurz, der Saxophonist wird schnellstens wieder zu seinen leichten Liebeleien und dem West Coast zurückfinden. Dies wird ihn aber nicht daran hindern, João Gilberto wieder im Studio zu begegnen, um zehn Jahre später, am 21. Mai 1975 The Best of Two Worlds für das Label Columbia aufzunehmen. Am Mikrofon: die neue Brasilianische Stimme, Heloisa Buarque de Hollanda alias Miúcha, Schwester von Chico Buarque und zukünftige Mutter von Bebel Gilberto... Es ist letztlich Astrud Gilberto, die diese weltweite Verliebtheit, oder eher noch die Verliebtheit der Yankees in die südamerikanische Musik am besten beschreibt

Ich bin keine Soziologin, aber es war eine Epoche, in der die Leute in den Vereinigten Staaten sich von ihren alltäglichen Problemen abwenden wollten. Es herrschte das Gefühl einer globalen Unzufriedenheit - vielleicht haben sie schon den Krieg gespürt, der sich von weitem anbahnen sollte - und die Leute wollten Romantik, Träume, Ablenkung. Normalerweise sind die Amerikaner wenig neugierig auf Stile, die von anderswo kommen. Die Beatles machten Rock’n’Roll auf Englisch, eine geläufige Sprache, das war also nicht wirklich etwas Fremdes. Unsere Musik war brasilianische Musik in moderner Version. Es war sehr schön und ziemlich außergewöhnlich, es geschafft zu haben, sich damit in die Musikkultur Amerikas einzubetten.