Anlässlich der Veröffentlichung seiner Quartette bei der Deutschen Grammophon, die vom Mivos-Quartet zum ersten Mal vollständig präsentiert werden, sprach der 86-jährige mehrfach ausgezeichnete Komponist und Gründervater der minimalistischen Musik in einem Telefoninterview freimütig und offenherzig über sich selbst. Ein Porträt eines Mannes, der nur noch selten Interviews gibt, aber immer noch begeisterungsfähig und faszinierend ist.

Sie pflegen enge Beziehungen zu den Künstler:innen und Ensembles, die Ihre Musik aufführen. Nun haben Sie zum ersten Mal Ihre Quartette vom Mivos-Quartett aufnehmen lassen. Können Sie uns etwas über diese Begegnung und die Entstehung des Projekts erzählen?

Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam! Olivia De Prato [Geigerin und Mitglied des Mivos Quartetts, Anm.d.R.] spielt zufällig auch erste Geige im Ensemble Signal, das ich damals schon gut kannte, da sie viele meiner Werke spielten. Ich glaube, ich habe sie bei einer Probe kennengelernt. Sie erzählte mir von ihrem Wunsch, mit ihrem Quartett Different Trains zu spielen. Letztes Jahr war ich in Kalifornien bei meinem Sohn zu Besuch und hörte mir eine Probe des Mivos-Quartetts an, bei der sie die drei Quartette spielten, die auf dem Album zu hören sind. Ich musste ihnen nur minimale Hinweise zur Verbesserung ihrer Interpretation geben. Es war wunderbar, mit solch talentierten Musiker:innen zu arbeiten. Ich finde, sie haben eine großartige Aufnahme präsentiert.

WTC 9/11, Different Trains, Triple Quartet: Keines dieser Werke ist ein Streichquartett im historischen und klassischen Wortsinn – ihre Aufführung erfordert Tonbänder, Sprachaufnahmen und eine mehrfache Quartettbesetzung.

Sie haben natürlich eine ganz andere Form als das « klassische » Streichquartett. Anfang der 80er Jahre bat mich der Flötist Ransom Wilson, ein Konzert für ihn zu schreiben, aber ich lehnte ab. Damals fühlte ich mich bei meiner Vorgehensweise als Komponist von dieser Form nicht inspiriert. Nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, rief ich ihn wieder an und sagte: « Hör zu, ich weiß nicht, ob es dich interessiert, aber ich schlage dir Folgendes vor: Ich werde ein Werk komponieren, für das wir dich mit der Flöte vorab auf mehreren Spuren aufnehmen, und dann kannst du einfach live dazu spielen. » Er antwortete: « Bingo! » Und so entstand Vermont Counterpoint als erstes einer ganzen Serie. Später kam der Klarinettist Richard Stolzman zu mir: « Sag mal, würdest du mir ein Konzert schreiben? - Nein, aber ich sag dir, was wir machen... » und daraus wurde New-York Counterpoint. Danach kam Electric Counterpoint mit dem Gitarristen Pat Metheny und erst vor Kurzem Cello Counterpoint.

In jedem dieser drei Stücke wird das Streichquartett als ein einziges Instrument behandelt. Dabei besteht ein Quartett aus zwei Violinen, einer Viola und einem Cello. Ich brauche aber Vielfache desselben Instruments, um Kanon-Effekte zwischen identischen Klangfarben zu erzielen, wodurch diese besondere Klangtextur entsteht, mit der ich einen Großteil meines Lebens gearbeitet habe. Für den Hörer schafft das eine gewisse Zweideutigkeit nach dem Motto « Wer spielt hier was? ». Genauer gesagt, es bringt eine Vielzahl von Kontrapunkten hervor, die vielleicht noch interessanter klingen. Wenn Sie also das Quartett als unteilbare Einheit betrachten und diese mal drei multiplizieren, haben Sie 6 Violinen, 3 Bratschen und 3 Celli. Genau diese Art kleiner Ensembles finde ich sehr reizvoll! Eine Art Orchester mit vielen Streichern, oder besser gesagt: ein Kammer-Streichorchester.

Ihre drei Quartette werden hier in einem einzigen Programm präsentiert, zum ersten Mal und auf Ihre Initiative hin. Möchten Sie so diese hybride Form ein für alle Mal ins Repertoire aufnehmen?

Mit Triple Quartett befinden wir uns genau im Rahmen dieses « Kammer-Streichorchesters », von dem ich gerade gesprochen habe. Hier kommt nichts hinzu: weder vorab aufgenommene Stimmen noch irgendetwas anderes. Das ist bei Different Trains oder WTC 9/11 nicht der Fall. Ich freue mich, dass diese drei Werke endlich auf einem Album vereint sind, denn sie wurden ziemlich regelmäßig aufgeführt – vor allem Different Trains, WTC und Triple Quartet etwas seltener – und erscheinen nun endlich als Gesamtheit. Das finde ich sehr gut! Natürlich ist meine Herangehensweise an das Streichquartett nicht die gleiche wie in den traditionelleren Formen bei Bartók, Janáček oder Beethoven. Viele sagen: « Das ist gar kein Streichquartett », und in gewisser Weise haben sie Recht. Tatsächlich ist das, was ich geschaffen habe, letztlich sehr idiomatisch, jedenfalls aus heutiger Sicht, wo jeder ein Mehrkanal-Aufnahmegerät zur Hand haben kann: Manchmal ist es sogar im System Ihres Telefons oder Laptops eingebaut!

Aber lassen Sie uns einen Sprung zurück in die 80er Jahre machen, als ich die ersten Stücke aus der Serie Counterpoints schrieb: Der Interpret musste die vorab aufgenommenen Bänder bei Boosey & Hawkes (dem Verlag, der die Werke von Steve Reich exklusiv veröffentlicht, Anm.d.R.) ausleihen und spielte dann im Konzert dazu. Das macht heute niemand mehr! Jetzt nehmen die Musiker:innen ihre eigenen Versionen auf, alle können zu Hause ihr eigenes Tonstudio einrichten. Die technologische Demokratisierung schafft heute für die Art und Weise, wie komponiert oder interpretiert wird, eine bestimmte Realität. Folglich sind meine Quartette dadurch tief in dieser speziellen Epoche der Musikgeschichte verwurzelt. Also ja, es sind keine Quartette von Bartók, Janáček oder Beethoven: Sie sind von Steve Reich. Sie werden sicher nicht so oft gespielt werden, aber ich hoffe, dass diese Aufnahme einen Anstoß für zukünftige weitere Aufnahmen gibt.

In diesem Jahr sind außerdem zwei wichtige Weltersteinspielungen bei Nonesuch Records erschienen: Runner und Music for Big Ensemble and Orchestra vom Los Angeles Philharmonic und Reich/Richter vom Ensemble InterContemporain. Reich/Richter ist eine für die Bühne konzipierte audiovisuelle Kreation, bei der das Orchester mit Videoprojektionen der Gemälde von Gerard Richter begleitet wird. Anfangs wollten Sie das Stück nicht ohne Videomaterial aufführen...

Ganz im Gegenteil! Das Werk soll eine eigene, autonome Existenz haben. Wenn es zusammen mit dem Film präsentiert wird, umso besser! Aber ich möchte nicht, dass es zu sehr an das Video gebunden ist. Ich freue mich, wenn es öfter gespielt wird! Bei dem von Ihnen erwähnten Album handelt es sich übrigens um die Live-Aufnahme eines Konzerts, das 2020 in der Pariser Philharmonie stattfand.

Im letzten Jahr war ich bei der französischen Erstaufführung Ihrer neuesten Komposition, Traveller’s Prayer, dabei und fand die große Vielfalt Ihres Publikums sehr beeindruckend. Ihre Musik wird von allen Generationen gehört, von 9 bis 99 Jahren!

Das freut mich auch sehr! Ich bin 86 Jahre alt, und wenn unter meinen Zuhörer:innen auch 26-Jährige sind, dann enthält meine Musik vielleicht einige interessante Weisheiten (lacht). Das wünscht sich jeder Komponist. Zu meinen Zuhörer:innen gehören aber auch ältere Menschen, die vom Pop oder von der klassischen Musik herkommen. Wir leben heute in einer Zeit, in der man problemlos zu jeder Art von Musik Zugang hat. Die Leute machen das gerne, und sie haben Recht!

Steve Reich in seinem Studio in Manhattan, 1989 © Jack Vartoogian/Getty Images
Steve Reich in seinem Studio in Manhattan, 1989 © Jack Vartoogian/Getty Images

Traveler’s Prayer beruht auf Auszügen aus der hebräischen Bibel. In vielen Ihrer Werke klingen Ihre jüdischen Wurzeln durch. Inwiefern ist das religiöse Erbe für Ihre musikalische Arbeit von Bedeutung?

Es gibt mir viel Stoff. Wenn Sie genau hinsehen, gibt es wahrscheinlich keinen Text, der in der Geschichte der westlichen Musik häufiger vertont wurde als die Bibel. Ich habe unzählige Vorgänger: ab dem 12. Jahrhundert Perotin, Machaut, Josquin des Prés...dann Bach, Haydn usw. Was ich tue, ist für unsere Zeit mittlerweile ungewöhnlich, denn die Leute sagen, dass die Bibel nichts Relevantes mehr zu sagen hat, aber dem stimme ich absolut nicht zu. Als ich wieder mit meinem jüdischen Glauben in Verbindung trat, kam in mir der Wunsch auf, die hebräischen Texte zu vertonen. Was die Lieder angeht, so gab es ein spezielles Buch, das es verdient hätte, vertont zu werden. Das Problem ist, dass es keine Überlieferung gibt, wie diese Lieder gesungen wurden! Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie die Tora rezitiert wurde, dank der berühmten Kantillationszeichen im Tanach. Diese geben uns aber keinen Hinweis auf die Noten, da die Praktiken von Land zu Land variieren und man in Algerien, Paris oder New York nicht auf dieselbe Art und Weise singt.

Ich glaube, dass die jemenitische jüdische Gemeinschaft als einzige die ursprüngliche Gesangspraxis beibehalten hat. Abgesehen davon wissen wir nicht, wie früher gesungen wurde. Das war für mich perfekt, denn so war ich frei, alle historischen Hintergründe zu ignorieren und einfach zu komponieren! Tehillim hat nichts mit der Gesangstradition der Hebräischen Schriften zu tun; im Gegensatz dazu schöpft Traveler’s Prayer aus den traditionellen Melodien der italienischen jüdischen Gemeinschaft, die vom Rest Europas weitgehend abgetrennt war. Sie hat ihre eigenen Melodien entwickelt, die aber noch auf einem Klavier gespielt werden können. Das unterscheidet sie von der jemenitischen Tradition, in der mikrotonale Tonleitern vorkommen. Die italienische Tradition bleibt bei der temperierten Tonleiter. So konnte ich ohne weiteres traditionelle Melodien aufgreifen, ohne sie zu verstümmeln oder in etwas komplett Neues umzuwandeln. Und da ich bei weitem nicht der Erste bin, der das tut, – siehe Bach, Strawinsky und die meisten Komponisten, die ich bewundere – fühle ich mich nicht wirklich schuldig!

Ihre Kompositionen knüpfen oft an schmerzhafte historische Ereignisse an: Different Trains erinnert an den Holocaust, WTC 9/11 greift die Anschläge vom 11. September auf. Daneben gibt es auch Daniel Variations, Three Tales, Come Out... Es scheint, dass politisches Engagement und soziale Fragen untrennbar mit Ihrer musikalischen Tätigkeit verbunden sind.

Es kommt auf das Stück an! Nehmen Sie zum Beispiel Triple Quartet: Es hat keinen politischen Hintergrund, ebenso wie Drumming oder Music for 18 Musicians. Dagegen handelt It’s Gonna Rain, eines meiner frühesten Stücke, von der Arche Noah und entstand kurz nach der Ermordung von John F. Kennedy und der Kubakrise. Zu dieser Zeit durchquerte ich selbst gerade eine sehr komplizierte Phase meines Lebens. So habe ich in It’s Gonna Rain natürlich mein persönliches Leben und das weltweit angespannte Klima anklingen lassen. Ich werde in meiner Musik nur dann politisch, wenn die Politik meine persönlichen Erfahrungen widerspiegelt.

Das beste Bespiel dafür ist zweifellos WTC 9/11. Meine Frau und ich wohnten zur Zeit der Anschläge vom 11. September nur vier Häuserblocks von den Twin Towers entfernt. Wir befanden uns an diesem Tag in Vermont, aber mein Sohn, seine Frau und ihr Kind waren in unserer Wohnung in Manhattan. So erlebten wir die Anschläge live am Telefon mit. Es war für uns eine schreckliche persönliche Erfahrung! Erst 10 Jahre später kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht etwas daraus machen könnte. Ich hatte damals bereits Different Trains komponiert, also griff ich die Idee wieder auf, Stimmen von Menschen aufzunehmen, die als Augenzeugen dabei waren, insbesondere die New Yorker Feuerwehrleute oder Sanitäter. Ich war im Grunde immer unpolitisch, auch als ich noch jünger war. Aber sobald ein Thema in mein Privatleben einbricht, wird mir klar, dass es nicht nur um Dinge geht, über die man in der Zeitung liest oder im Radio hört. Es stellt Ihr Leben auf den Kopf und überrollt einfach alles andere.

Sie arbeiten zurzeit an Ihrem nächsten Werk, Jacob’s Ladder. Können Sie mehr über dieses Projekt erzählen?

Die Partitur liegt gerade vor mir, während ich mit Ihnen spreche. Bislang habe ich ... 11 Minuten und 24 Sekunden Musik geschrieben! (lacht). Die Instrumentierung ist ähnlich wie bei Traveler’s Prayer: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Vibraphone, 1 Klavier, ein doppeltes Streichquartett und 2 Soprane und 2 Tenöre als Sänger. Die Komposition an sich wird jedoch sehr anders sein. Traveler’s Prayer ist insofern besonders, als es keine echten Pausen und keine regelmäßigen rhythmischen Markierungen gibt. Und das war nicht wirklich mein eigener Wille! Während ich das Stück schrieb, war es, als würde die Musik mir sagen: « Das ist es, was ich brauche, lass mich machen! ». In Jacob’s Ladder (« Die Jakobsleiter ») ist es genau umgekehrt. Ich verwende den hebräischen Originaltext, nur einen einzigen Vers aus der Bibel. Und vor allem gibt es sehr wenig Gesang, was ich nicht gewohnt bin. In Bezug auf die Thematik der « Jakobsleiter » fragte ich mich: Von welcher Leiter ist die Rede? Was könnte die musikalische Entsprechung einer Leiter sein? Zunächst einmal könnte man sich vorstellen, dass es Tonleitern wären, nicht wahr? Aufsteigende und absteigende Tonleitern. Aber wenn ich ein Stück nur mit aufsteigenden und absteigenden Skalen komponieren würde, dann käme dabei nur furchtbar schlechte und langweilige Musik heraus! Da wurde mir klar, dass alle Melodien Auf- und Abwärtsbewegungen haben. Und ich sah eine Parallele zu unserem eigenen spirituellen Weg: das Herabsteigen oder Aufsteigen der Engel, die auch Boten sind. Das hebräische Wort Mal’âkh hat ursprünglich beide Bedeutungen. Die Engel kommen und gehen von der Erde in den Himmel. Zurzeit bin ich dabei, den Text umzusetzen, ich interessiere mich immer mehr für die Stellen, an denen der Text fehlt, und ich schreibe die Musik sehr frei. Es ist sehr schwierig für mich, Ihnen von einem Stück zu erzählen, das gerade in Arbeit ist, ich glaube, ich habe schon zu viel gesagt!

Steve Reich beim Jerusalem Music Centre, 2007 © Dan Porges/Getty Images
Steve Reich beim Jerusalem Music Centre, 2007 © Dan Porges/Getty Images

Sie haben gesagt, dass Sie seit der COVID-Krise nicht mehr reisen. Das schränkt Ihre Möglichkeiten zur künstlerischen Betreuung der Ensembles, die weltweit Ihre Werke aufführen, stark ein. Erleben Sie das als frustrierend? Oder freuen Sie sich im Gegenteil darüber, dass Ihre Musik ihr eigenes, unabhängiges Leben führt?

Wenn meine Musik nicht ihr eigenes, unabhängiges Leben führen kann, dann habe ich alles falsch gemacht! Es geht mir nicht um mich und ich versuche nicht, interessanter zu sein als eine Fußnote. Ich bin nicht unsterblich, aber meine Musik wird mich vielleicht überdauern: Das ist meine Einstellung. Covid hat nichts damit zu tun, dass ich aufgehört habe zu reisen. Ich bin 86 Jahre alt, meine Gesundheit ist naturgemäß nicht mehr so gut wie früher, und ich möchte so lange wie möglich leben und weiterhin Musik schreiben, ohne mich um die Organisation von Konzerten und Tourneen kümmern zu müssen. Ich habe 40 Jahre lang viel mit meinem eigenen Ensemble, Steve Reich & Musicians, gespielt. Während all dieser Jahre musste ich bei den Proben, Konzerten oder Aufnahmen anwesend sein. Als ich 2006 70 Jahre alt wurde, beschloss ich, die Arbeit mit dem Ensemble zu beenden. Seitdem konzentriert sich meine Konzerttätigkeit auf punktuelle Auftritte mit Ensembles, die meine Musik spielen, wie das Ensemble Modern, das Ensemble Intercontemporain oder die London Sinfonietta. Manchmal coache ich sie auch. Ich kann nicht mehr so viel reisen wie früher: Wenn ich nur von New York nach London fahre, brauche ich Tage, um mich davon zu erholen!

Lassen Sie uns einen Blick zurückwerfen auf die frühen 60er Jahre, als Sie die Phasing-Technik entdeckt und weiterentwickelt haben. Wussten Sie damals, dass Sie etwas Revolutionäres in der Hand hielten, das die Musikbranche bis heute maßgeblich beeinflussen würde?

(Er lacht): Ganz und gar nicht! Damals habe ich nur herumexperimentiert. Das war so um 1962/63, ich studierte am Mills College in Kalifornien. Einer meiner Lehrer war Luciano Berio und eines Tages spielte er uns zwei Stücke von Karlheinz Stockhausen vor: eine Elektronische Studie und Gesang der Jünglinge. Ich weiß noch, wie ich dachte: « Aber warum? Da sollte doch nur eine Stimme sein! » Das hat mich in meinem Wunsch bestärkt, nicht-elektronische Musik zu schreiben, die man damals Musique concrète nannte (er sagt es auf Französisch, Anm.d.R.), und die gesprochene Stimme als Instrument zu verwenden. Denn sie verbindet die Bedeutung von Wörtern mit Klängen. Das hat Leoš Janáček schon lange vor mir entdeckt: Auch wenn man es nicht merkt, singt man, wenn man spricht (er wiederholt die letzten Worte mehrmals mit der gleichen Intonation, bis sie wie eine geträllerte Melodie klingen, Anm.d.R.). In diesem Beispiel ist meine Stimme sehr sanft, aber in It’s Gonna Rain oder Come Out klingt es viel kraftvoller. Und wenn ich in jedem dieser beiden Stücke eine bestimmte Phrase isoliert habe, dann wegen der melodischen Klarheit, die sie enthielt. In gewisser Weise erwies sich Wiederholung als der beste Weg, um in die Musikalität der Sprache einzudringen. Zu Beginn hören Sie wirklich, was die Person sagt, aber nach einer Weile konzentriert sich Ihre Aufmerksamkeit mehr auf die Melodie als auf die Bedeutung der gesprochenen Worte. Doch Melodie und Bedeutung sind miteinander verflochten, sie sind ein und dasselbe.

Die Entdeckung des Phasings geschah zufällig, während ich It’s Gonna Rain komponierte. Ich benutzte zwei verschiedene Tonbandgeräte, um die Worte « it’s gonna » herauszulösen und sie gegen « rain » spielen zu lassen. Die Tonbandgeräte liefen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit (die Technik war damals nicht so präzise wie heutige Computer). Und da dachte ich mir: « Moment mal! ». Diese allmähliche Verschiebung ist viel interessanter als jede andere Beziehung zwischen zwei Motiven. Zunächst erklingen zwei identische Motive unisono, dann driften sie auseinander, bilden eine Art Nachhall, dann schließlich völliges Chaos, und danach beginnt eine neue Verbindung. Das schafft eine unendliche Anzahl an kontrapunktischen Beziehungen. Damals begann ich begeistert das Phasing zu erforschen. Aber nach sechs Jahren sagte ich basta. Ich wollte enge Kanon-Beziehungen entwickeln, ohne systematisch den gesamten Prozess durchlaufen zu müssen, der für Musiker live nur sehr schwer umzusetzen ist. Seit Drumming setze ich in keinem meiner Stücke mehr Phasing ein.

Steve Reich © Nancy R. Schiff/Getty Images
Steve Reich © Nancy R. Schiff/Getty Images

Sie sagen, dass Wort und Melodie ein und dasselbe sind: Woher kommt Ihre derart intime Beziehung zum Wort?

Aus der Realität! Es geschieht in jedem Moment zwischen Ihnen und mir. Wenn ich zu Ihnen sage « NEIN! Das reicht, gute Nacht! » (er schlägt einen sehr aggressiven Ton an, Anm.d.R.), löst das bei Ihnen eine heftige Reaktion aus. Wenn ich aber sage: « Hören Sie, es ist schon spät, wir hören jetzt auf. Gute Nacht! » (er schlägt einen viel sanfteren Ton an, Anm.d.R.), wird Ihre Reaktion völlig anders ausfallen, obwohl ich genau das Gleiche sage! Meine Sprechmelodie hat einen größeren Einfluss auf Sie als die Worte an sich. Das ist eine Realität, die wir alle seit Urzeiten erleben. Sie trifft nicht nur auf mich zu, sondern ist universell. Sobald einem das bewusst wird, leuchtet die Idee, Stimmen aufzunehmen und sie für eine musikalische Dramaturgie zu verwenden, viel eher ein. Wie sollte ich ein Stück über den Holocaust komponieren? Ich war während des Zweiten Weltkriegs in Amerika, weder meine Eltern noch meine Großeltern waren betroffen. Die einzige Möglichkeit für mich, Different Trains zu komponieren, bestand darin, die Stimmen von Zeugen aufzunehmen, die diese Ereignisse direkt miterlebt hatten, von Menschen, die dort waren und es überlebt hatten. Nur sie haben das Recht, darüber zu sprechen. Und alle anderen sollen die Klappe halten, ihr wisst nicht, wovon ihr redet! Aber diese Leute sind Augenzeugen an vorderster Front! Und das ist meiner Meinung nach der Grund, warum Different Trains so gut funktioniert und warum ich es so gemacht habe. Sonst hätte ich mich geweigert, es zu tun. Die einzige Lösung lag in der Wahrheit jedes einzelnen dieser Zeugen, die über reale Erlebnisse sprachen. Wissen Sie, was Janáček getan hat? Er ging mit Notenpapier durch Prag und notierte die Melodie dessen, was die Leute sagten (nicht was sie sangen!). Zuerst auf Deutsch, dann fand er das Ergebnis zu brutal (lacht). Dann versuchte er es noch einmal auf Tschechisch, und da klang es viel schöner! Alle Komponisten tun das, sie komponieren auf der Grundlage ihrer persönlichen Erfahrungen mit der Sprache. « Belcanto », « Rock’n’Roll » diese Wörter beschreiben Musikgenres, aber auch örtliche Lebensrealitäten! Bitte spielen Sie mir keinen italienischen Rock’n’Roll vor: Das passt nicht zur Sprache. Einmal sprach ich mit Stephen Sondheim – möge er in Frieden ruhen, er war ein unglaublicher Typ –, der ein Lied geschrieben hat mit dem Text « Another hundred people just got off of the train » (er skandiert den Vers erneut und zählt dabei die Metrik mit, um die Übereinstimmung von Text und Wirkung zu verdeutlichen, Anm.d.R.) Ich sagte zu ihm: « Nachdem du das gesagt hast, brauchst du das Lied nicht mehr zu beenden, Du hast schon alles gesagt ». Darüber musste er lachen!

Ihre Musik findet bei Künstler:innen aus allen anderen Bereichen Anklang: Anne Teresa de Keersmaeker, Gerhard Richter, Beryl Korot. Wie ist Ihr Verhältnis zu anderen Kunstgattungen?

Als ich jünger war, ging ich sehr oft zu Vernissagen in Kunstgalerien. Viele meiner frühen Werke – die Stücke auf Magnetband, Piano Phase oder Violin Phase Well – wurden in Museen für zeitgenössische Kunst und Galerien uraufgeführt, bevor sie in traditionelle Musikkreise gelangten. Tehillim wurde in der Rothko Chapel in Houston uraufgeführt, Drumming im MoMA. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Künstlern wie Richard Serra, Sel LeWitt und Michael Snow. In meiner jetzigen Lebensphase ist das nicht mehr so ausgeprägt. Meine Frau Beryl Korot ist stark in der zeitgenössischen Kunstszene verankert und stellt demnächst in Los Angeles aus. Ich werde sie begleiten und wir werden eine ganze Reihe von Leuten treffen, die sie viel besser kennt als ich! Bildende Kunst gehört immer noch zu meinem Leben – wie etwa mein jüngstes Erlebnis mit Gerhard Richter, er ist ein sehr großer Künstler –, aber es ist nicht mehr so ausgeprägt wie in den 1970er Jahren.

Ihr Einfluss geht über die zeitgenössische klassische Musik hinaus und wirkt sich bis in die Sphären von Rock und Techno aus. Würden Sie uns bitte etwas über Ihre eigenen musikalischen Einflüsse erzählen?

Ich war – wie wohl alle in meiner Generation – ein großer Fan der Beatles, vor allem ihres Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Ich mochte auch Motown und Junior Walker sehr. Aber meine wahre musikalische Leidenschaft war der Jazz, vor allem der Jazz von Miles Davis oder John Coltrane. John Coltrane und sein sogenannter « modaler Jazz », insbesondere auf dem Album Africa/Brass, auf dem er die ganze Zeit in E spielt. Es ist das Jahr 1961, lange vor Terry Rileys In C, Sie haben eine Aufnahme von 16-17 Minuten und fragen sich: « Welches sind die Veränderungen, die Harmonien? » Und die Antwort lautet: E, immer nur E! Unglaublich! Bei Junior Walker von Motown gab es auch einen Titel, Shotgun, bei dem der Bass immer das gleiche Motiv wiederholt. Den meisten Liedern liegt die Form A-B-A zugrunde. Das Hauptthema, ein anderes Motiv und dann die Rückkehr zum Hauptthema. Nicht so in Shotgun, und das zeitgleich mit Coltrane! Das lag schon eine ganze Weile in der Luft. Und so entstand damals die sogenannte « minimalistische » Musik. Viele Musiker:innen (darunter auch die Beatles) zeigten großes Interesse an nicht-westlicher Musik: indische, afrikanische, balinesische Musik. Es gab auch eine Vorliebe für « harmonische Stasis »: Dieses Verharren in derselben Harmonie ist eine Praxis, die plötzlich aus anderen Teilen der Welt zu uns in den Westen kam.

Eine letzte Frage an einen visionären Komponisten wie Sie: Was sind Ihre Wünsche und Prognosen für die Zukunft der zeitgenössischen Musik?

(Lacht) Nun, zunächst einmal wünsche ich mir, dass wir das selbstzerstörerische Potenzial überwinden, das in der zunehmenden technischen Raffinesse liegt. Musikalisch beobachte ich schon jetzt jüngere, sehr talentierte Generationen, insbesondere Frauen. Ich denke da an Caroline Shaw, Julia Wolfe und Gabriella Smith: drei führende amerikanische Komponistinnen. Sie wurden vage mit dem in Verbindung gebracht, was ich mache, aber sie gehen in ganz andere Richtungen und sind absolut bemerkenswert. Ich hoffe, dass wir es schaffen, uns die nötige Zeit und Energie zu bewahren, um uns musikalisch neu zu erfinden, egal wie die Realität um uns herum aussieht. Und was mich betrifft, so hoffe ich, dass meine Musik auch zukünftige Generationen interessieren wird. Denn wenn Musiker:innen sie immer noch spielen wollen und das Publikum sie immer noch hören will, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt!

Deutsche Fassung: Angelika Boschnitz

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