Man mag es kaum glauben, aber Martha Argerich begeistert seit über 60 Jahren ihr Publikum auf der ganzen Welt mit ihrem wilden und impulsiven, um nicht zu sagen risikoreichen Klavierspiel und mit den technischen Schwierigkeiten, denen sie immer wieder die Stirn bietet, was ihre Interpretationen zu wahren Abenteuern machen. Wir sind die bewundernden Zeugen.

1957, sie ist gerade einmal 16 Jahre, entdeckt die überraschte Musikwelt Martha Argerich beim Concours de Genève. Sie sollte laut Zeitplan am Nachmittag vorspielen. Doch die rebellische Teenagerin erscheint zu spät und kommt der Jury mit aller Lässigkeit entgegen: “Dort wo ich herkomme, macht man gerade Mittagsschlaf!” Man kann sich den Effekt vorstellen, den dieser Kommentar in der Stadt der Schweizer Pünktlichkeit erzeugt haben muss… Ihre Interpretation des ersten Satzes von Schumanns a-Moll-Konzert, das bei Qobuz zu hören ist, berührt uns heute noch genauso, wie es damals die Jury berührt hat, die ihr, gemeinsam mit dem französischen Pianisten Dominique Merlet, den ersten Preis verliehen hat: Fiebrige Emotion gepaart mit makelloser Spieltechnik und einem Anschlag, der vor allem in der Kadenz einschlug, die sie auf so persönliche und visionäre Weise interpretierte.

Drei Jahre später nimmt Martha Argerich ihre erste Platte bei Deutsche Grammophon auf, was ihr Komplimente von Vladimir Horowitz einbringt, den sie leider niemals persönlich kennenlernen wird. Diese erste Platte sichert ihr weltweite Anerkennung. Eine Legende ist geboren. Dieser Status verlässt die unbiegsame, unabhängige, mysteriöse und leidenschaftliche Frau niemals. Ihre Liebschaften werden in die Öffentlichkeit getragen. Mit drei Männern hat sie jeweils eine Tochter: Lyda Chen, geboren in Genf nach einer kurzen Liaison mit dem amerikanisch-chinesischen Dirigenten Chen Liang-Sheng in New York, ist heute eine begabte Violinistin. Annie Dutoit hat sich ebenfalls ihren eigenen Weg zwischen dem einer Mutter als internationaler Star-Pianistin und eines Dirigenten-Vaters (Charles Dutoitgeschaffen und ist als Dozentin, Journalistin und sogar als Schauspielerin aktiv. Was Stéphanie Argerich betrifft, so ist sie aus der Liebe zwischen Martha und dem amerikanischen Pianisten Stephen Kovacevich entstanden, möglicherweise die große Liebe ihres Lebens. Als Regisseurin dreht Stéphanie Argerich 2012 den bewegenden Dokumentarfilm Bloody daughter über ihre Mutter, mit der sie eine komplizierte, aber symbiotische Beziehung hat. Sie lässt uns an einigen Fetzen ihrer intimsten Gespräche und einigen Lippenbekenntnissen der Pianistin teilhaben, die mit Worten nur so schwer kommunizieren kann. Sie spricht über ihre bedingungslose und unerklärliche Liebe zu Schumann, ihre Angst vor dem Älterwerden und sich eines Tages selbst zu imitieren. Ganz instinktiv gesteht sie ihre Unfähigkeit ein, über Musik zu sprechen - eine Sache die “nichts bringt”.

Martha Argerich ist ängstlich und leidet an Lampenfieber, ist unzufrieden mit ihrem Leben und sich selbst, oftmals depressiv. Sie spielt aber Klavier, ohne den Werken, die sie seit ihrer Kindheit darbietet, überdrüssig zu werden und geht ihre innersten Interpretationen immer wieder aufs Neue an, mit einer Freiheit im Klang und der außergewöhnlichen Gabe, Neues zu schaffen.

Melden Sie sich kostenlos an, um weiterzulesen