Alle Jahre wieder… Die Beliebtheit von J.S. Bachs Weihnachtsoratorium (BVW 248) in der Vorweihnachtszeit ist unumstritten. Kein anderes geistliches Werk hat eine derartige Popularität und Reichweite erlangt, sowohl in seiner Aufführungspraxis als auch was Tonträgernaufnahmen angeht. Doch was genau ist es, das das festliche Werk so magisch und einzigartig macht, sodass es noch fast 300 Jahre nach seiner Entstehung weltweit unzählige Male in der Adventszeit erklingt? Wir gehen dieser Frage auf die Spur...

Der Inhalt von Bachs Weihnachtsoratorium (BVW 248) ist wohl den meisten Leuten bekannt: In insgesamt sechs Teilen, instrumentiert für Soli, gemischten Chor und Orchester, vertont Bach die neutestamentliche Weihnachtsgeschichte - kurz gesagt, die Freude über die Geburt Christi. Was die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte angeht, kennt sich der Großteil jedoch vielleicht etwas weniger aus. Und so mag es den ein oder anderen „erschrecken“, wenn wir Ihnen nun berichten, dass Bach tatsächlich viele der Melodien und Chöre von bereits bestehenden musikalischen Material übernahm und bei weitem nicht alles neu komponierte. Ja, Sie haben richtig gelesen, Bach und geklaute Musik?! Doch fangen wir von vorne an...

Die Gattung des Weihnachtsoratoriums beruht auf seinem Vorläufer, den sogenannten Weihnachtshistorien, die ihren Ursprung im 17. Jahrhundert finden. Dabei handelt es sich um geistliche Konzerte, in denen die Evangelien für besondere Feiertage vertont wurden. Bei den Historien stehr der Bibeltext im Mittelpunkt und wird unverändert gelassen, wobei hingegen im Oratorium eine Ergänzung von freien Dichtungen und Texten erfolgt - eine Art der persönlichen, künstlerischen Gestaltung.

Darüber hinaus war es üblich, derart umfangreiche Werke, die einen bestimmten Feiertag zum Anlass hatten, auf mehrer Festtage zu verteilen und somit die einzelnen Teile nacheinander und getrennt aufzuführen. Als Bach im Jahre 1734 sein Weihnachtsoratorium vollendete, wurde die Uraufführung der sechs einzelnen Partien - damals durch den Thomanerchor in der Leipziger Nikolaikirche - auf die genauen Festtage zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag (25. Dezember 1734) und dem „Dreikönigsfest“ (6. Januar 1735) festgelegt. Die Idee war also an den Zeitraum nach Heilig Abend gekoppelt, im Gegensatz zu heute, wo das Stück meistens in der Adventszeit und somit vor Weihnachten zu hören ist. Diese damalige Praxis war jedoch keine Ausnahme und lässt sich auch in anderen Weihnachtsoratorien von Bachs Zeitgenossen wie Johann Heinrich Rolle oder Georg Philipp Telemann wiederfinden.

Prinzipiell kann Bachs Weihnachtsoratorium als eine Mischung aus Vertonungen von biblischen Texten und freien Dichtungen, Kirchenliedern sowie rein instrumentaler Musik angesehen werden. Basierend auf dem Bibelwort des Lukas- und Matthäus-Evangeliums, werden daher auch Texte von unter anderem Paul Gerhardt, Martin Luther oder Johann Rist hinzugefügt sowie freie Dichtungen von Bach selbst. Rezitative verknüpfen die Arien und Chöre miteinander, wobei am Ende eine jeden Teils ein abschließender Choral als zusammenfassende Bestätigung den Teil abrundet.

So weit so gut, doch was hat es denn nun mit der „geklauten Musik“ auf sich? Versetzen wir uns in den Moment der Uraufführung am 25. Dezember 1734, so würden wir als damaliger sächsischer Bürger und Bürgerin - gleich nach dem Erklingen der ersten Töne des Anfangschores ‘Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage’ - eine uns bereits bekannte Melodie wiedererkennen. Es handelt sich dabei um die Melodie von Bachs Glückwunschkantate (BWV 214), die er erst im vorherigen Jahr zum Anlass des Geburtstags der Königin von Sachsen komponierte - ein weltlicher Anlass, ohne Bezug zur Kirche! Dass Bach seine eigenen Werke sowie auch die anderer Komponisten in weitere Kompositionen - mögen diese noch so monumental sein - mit aufnimmt, ist tatsächlich im Zeitalter des Barock nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, dieses sogenannte Parodieverfahren war sogar gängige Methode. Seine berühmte h-Moll-Messe (BWV 232), beispielsweise, die vielleicht als die bedeutendste seiner Kompositionen gilt, besteht auch größtenteil aus der Musik seiner früheren Werke.

Die Verwendung von bekannten Kantaten und Chören basierte einerseits auf der Praxis, dass dem Publikum vertrautes Material präsentiert wird, welches teilweise auch zum Mitsingen verleitet. Darüber hinaus bestand aufgrund dieses Parodieverfahrens, also der Synkrise von unterschiedlichen Stücken, die Überzeugung einer Einheit von weltlicher und geistlicher Musik. Während später und besonders in der Epoche der Romantik das Bild des Originalgenies vorherrschen sollte, so fand eine wertende Unterscheidung zwischen Original und Bearbeitung im Barock nicht wirklich statt. Es ist natürlich hervorzuheben, dass Bach nicht einfach Melodien und Instrumentalwerke eins zu eins kopierte und lediglich einen neuen Text unterlegte, vielmehr erfolgten komplexe Transpositionen, erneuerte Instrumental- und Vokalbesetzungen sowie eine teilweise neue musikalische Textausdeutung. Also kein Grund zur Sorge, Bach bleibt das musikalische Jahrhundertgenie...

Dadurch, dass Bach biblische Texte musikalisch deutet sowie diese mit neuen und adaptierten Vertonungen zusammenfügt, kann er sozusagen als „Ausleger“ der Bibel verstanden werden. Und so wie Bach das Bibelwort interpretiert, so können auch die vielen Dirigent:innen und Musiker:innen der Jahrhunderte nach ihm als Ausleger seiner Musik verstanden werden. Was die vielen Tonträgeraufnahmen des Weihnachtsoratoriums angeht, so gibt es in Expertenkreisen eine große Diskussion darüber, mit welcher Authentizität das Werk aufgeführt und interpretiert werden sollte - eine Balance zwischen historischer Aufführungspraxis und individuellem künstlerischen Ausdruck. Die „perfekte” Aufnahme auszuwählen ist wohl unmöglich und auch davon abhängig, auf was der Fokus gelegt wird: Solopartien oder Chöre, romantisierende Einspielungen oder getreue, historische Wiedergabe, Studioproduktionen oder Aufnahmen in Kirchen… Sicher ist jedenfalls, dass folgende Ensembles sowie Dirigenten und Dirigentinnen im letzten und diesem Jahrhundert Bachs einzigartiges Weihnachtsoratorium mit ihrer eigenen Magie geprägt haben!

Was eine historische Aufführungspraxis angeht, so ist sicherlich John Eliot Gardiners Einspielung von 1987 mit dem Monteverdi Choir und dem English Baroque Soloists zu nennen. Zudem ist die Besetzung einmalig, unter anderem mit Anthony Rolf Johnson, Olaf Bar und Anne Sofie von Otter. Neben Gardiner sollten auch auf keinen Fall die beiden großen Aufnahmen der Dirigenten Philippe Herreweghe mit dem Collegium Vocale Gent sowie Nikolaus Harnoncourt mit seinem Ensemble Concentus Musicus Wien und den Wiener Sängerknaben (2006 bei harmonia mundi) vergessen werden. Und auch Ton Koopman, der vor allem für Bachs Kantaten-Einspielungen bekannt ist, glänzt mit dem Amsterdam Baroque Orchestra.

Für manch einen mag es vielleicht zu romantisierend klingen, doch die spät- und hochromantische Interpretationsform von Karl Richter und dem Münchener Bach-Chor von 1965 ist und bleibt einmalig. Mit dabei eine hochgradige Besetzung mit Gundola Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Franz Crass. Und in diesem Zuge sollte auch Ralf Otto mit dem Vokalensemble Frankfurt und dem Concerto Köln nicht unerwähnt bleiben. Spannende Live-Mitschnitte aus den letzten Jahren gibt es mit Riccardo Chailly, dem Dresdner Kammerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig von 2010 sowie Jordi Savalls Einspielung aus der eindrucksvollen Palau de la Música in Barcelona (2019).

Die Magie von Bachs Weihnachtsoratorium bleibt selbst nach fast 300 Jahren nach seiner Entstehung erhalten und verzaubert uns jede Adventszeit wieders auf neue. Und so ist auch jede weitere Aufführung und Einspielung wert, das Stück in einem neuen Glanz zu erleben - selbst wenn wir die Musik bereits in und auswendig kennen.