Hi-Res
Auszeichnungen
Pitchfork: Best New Music
"Folklore" hatte einen interessanten Effekt auf die öffentliche Wahrnehmung von Taylor Swifts gesamter Diskographie. Erst als sie sich im seit jeher von Kritikern fetischisierten musikalischen Korsett des Folk bewies, wurde auch ihrem oft als schnödem Pop abgestempelten Frühwerk mehr und mehr die Bedeutung zugeschrieben, das es schon lange verdient. Als hätten all die Holzfällerhemd tragenden Hornbrillen-Redakteure nur auf diesen Beleg gewartet, dass sie eine 'echte' Künstlerin sei, um sich endlich ohne Schuldgefühle eingestehen zu können, dass "Love Story" ein verdammtes Meisterwerk ist und sie ja eigentlich lieber "Wild Dreams" als "Float On" beim Karaoke singen würde.
Wie passend, dass Taylor so nett ist und diese Retrospektive mit den Neuveröffentlichungen ihres gesamten Katalogs ankurbelt, die in Form eines übermenschlich großen ausgestreckten Mittelfingers gegenüber ihrem früheren Manager Scooter Braun daher kommen. Das spült ihr nicht nur noch mehr Geld in die Kassen und gibt ihr das Gefühl Alleininhaberin ihres geistigen Eigentums zu sein, es gibt uns auch die Möglichkeit, kurz innezuhalten und dieses Mal so vollkommen ohne Vorbehalte über das vielleicht beste Pop-Album der letzten Dekade zu sprechen.
Wie schon bei "Fearless" ist auch im Falle von "Red" Swifts Ziel, ihre alten Songs so wenig wie möglich zu verändern. 'Taylor's Version' ist kein Zertifikat, das besagt, so hätten diese Songs schon immer klingen sollen, vielmehr ist es eine akribische Restauration vergangener musikalischer Entwicklungsprozesse. Der rote Faden in Swifts Diskographie verläuft vom Country zum Pop zum Folk. "Red" ist der Moment, in dem erstmals ein markanter Übergang hörbar wurde. Die intimen Gitarren-Balladen und naiven Jugend-Romanzen kollidierten mit erwachsenem Herzschmerz und dem explosiven Songwriting eines Max Martin. Retrospektiv betrachtet bildet das Album das perfekte Bindeglied zwischen der unschuldigen Taylor Swift, die mit ihrer Klampfe die Herzen Amerikas eroberte, und der überlebensgroßen Pop-Ikone zu der sie ihre weiteren Releases machten.
Verlief die Kollision der verschiedenen Klangwelten 2012 nahezu organisch und nahtlos, offenbaren die Neuaufnahmen allerdings eine gewisse Diskrepanz. Max Martin war für dieses Release nicht mehr an Bord, und das hört man. Der Dubstep-Breakdown auf "I Knew You Were Trouble" ist gealtert wie Milch, "22" und "We Are Never Ever Getting Back Together" fehlen die Energie und der Bombast der Originalaufnahmen. Auch "Starlight", der ohnehin einzige wirkliche Fehltritt in der Tracklist, kommt ein wenig blass daher. Es ist kein Wunder, dass gerade ihre Versuche, die Songs zu rekonstruieren, die so symptomatisch für den verspielten Pop-Zeitgeist der letzten Dekade stehen, etwas ungelenk wirken. Man merkt, dass Swifts Mindset ein anderes ist, ein ernsteres und erwachseneres. Im Umkehrschluss kommt das allerdings nahezu jedem anderen Song auf "Red (Taylor's Version)" zugute.
Das Songwriting ist so wasserdicht wie immer, niemand schreibt bessere Bridges als Taylor Swift, aber auch die Emotionalität der Songs, die fast alle vom Finden und Verlieren einer jungen Liebe erzählen, ist über die Jahre nicht verloren gegangen. Swift ist seit 2017 mit Joe Alwyn zusammen, singt also nun aus der Perspektive einer gefestigten Beziehung, während ihr Liebesleben zur Entstehungszeit von "Red" für mehr Schlagzeilen sorgte als ihre Musik. Die jugendliche Naivität ist aus ihrer Stimme verschwunden, Taylor rezipiert die Texte voller Nostalgie, mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Das macht “Red” trotz der Monothematik besonders in dieser Version evokativ wie nur wenig Vergleichbares in diesem Genre. Es ist das definitive Zeugnis für die Songwriter-Qualitäten eines Pop-Powerhouses.
Die vokale Intimität von "Folklore" fühlt sich auf einem Großteil der Balladen wie zuhause an und wertet Songs wie "Treacherous", "I Almost Do", "The Last Time", "Sad Beautiful Tragic", "The Lucky One" oder allen voran "Holy Ground" ungemein auf. Es sind kleine Änderungen, wie wenn die vertrauten Akkorde irgendwie noch melancholischer klingen oder wenn ihre Stimme von wunderschönen geflüsterten und gesummten Background Vocals akzentuiert wird, die Swifts musikalische Progression seit 2012 verbildlichen und aus ohnehin schönen Lovesongs regelrechte emotionale Bulldozer machen.
In dieser Hinsicht steht "All Too Well" nach wie vor über allem. Es ist der beste Song, den Swift jemals schrieb. Das schwummrige Licht eines offenen Kühlschranks, ein vergessener Schal, fallende Blätter, ein zerknülltes Stück Papier: Swift blättert mit uns durch das Fotoalbum in ihrem Herzen, blutet ihre Unfähigkeit, zu Vergessen aufs Papier und treibt einem damit die Tränen in die Augen. Der Song ist eine fünfminütige Meisterleistung in evokativem Storytelling und Herzschmerz, vollkommen frei von der jugendlichen Naivität und den großen Hollywood-Gesten ihres Frühwerks. "Just between us, did the love affair maim you all too well?" - Als wäre das nicht schon genug, so hält 'Taylor's Version' von "Red" auch eine von Jack Antonoff produzierte Version des Songs bereit, der die Geschichte weiterspinnt und sowohl die Laufzeit als auch den emotionalen Impact mit einem himmlischen Outro verdoppelt. Es ist, so schwülstig die Bezeichnung auch klingen mag, ein perfekter Song.
Bezeichnend für das Level an Qualität, dass die Sessions zu "Red" zu Tage förderten sind auch die bisher unveröffentlichten "From The Vault"-Tracks, die im Gegensatz zu den erneut veröffentlichten, wenig aufregenden Bonus-Tracks dem originalen Album weitere, moderne Aspekte hinzufügen. Mit Ausnahme des etwas arg glatt produzierten "Message In A Bottle" hätte jeder dieser Songs, jedes Swift-Album bereichert. Zwischen den nostalgischen Pop-Throwbacks "Babe" oder "The Very First Night" und den warmen Indie-Balladen "Better Man" und dem Phoebe Bridgers-Duett "Nothing New" schlägt Swift nahtlos die Brücke zu ihrem jüngsten Output, was wieder einmal veranschaulicht, dass sie schon immer die begabte Musikerin und Texterin war zu der man sie jüngst so gerne in fast übertriebenem Maße stilisierte.
Als Gesamtprodukt ergibt das ein Album mit einer 120-minütigen Spielzeit, das nahezu keinerlei Füllmaterial beinhaltet und nur wenige Aussetzer. Trotzdem lässt sich die Neuauflage von "Red" nicht an einem Stück hören, ohne an Qualität einzubüßen. Swifts Talent als Songwriterin trägt dieses Album, aber es trägt es eben nicht über seine gesamte Länge. Ab einem bestimmten Punkt fühlt man sich satt, möchte auf Pause drücken und alles erst mal in Ruhe verdauen. Die Bonustracks hätten an für sich ein großartiges Projekt abgegeben, fühlen sich hier allerdings an wie die Reste, die man sich noch auf vollen Magen reinhaut, weil man den Teller leer zurückgehen lassen will, um zu beweisen, dass es geschmeckt hat.
Wer sich den Langspieler jedoch als Drei-Gänge Menü aufbereitet, den erwartet die beste Version von "Red" sowie schmackhafter Fan-Service vom Feinsten. Egal, ob man sich erst von einem Album wie "Folklore" bekehren lassen musste, oder seit Stunde eins Swiftie ist, wer mit ihrer Musik in der Vergangenheit etwas anfangen konnte, wird fast alles an diesem Album lieben. Und wer bisher immer noch der unpopulären Meinung ist, dass Taylor Swift ihren Status als Grande Dame des modernen Pop nicht verdient hat, der hat hiermit den ultimativen Gegenbeweis vorliegen.
© Laut