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Retrogott

Mindestens fünf Aliase, Alben in solide zweistelliger Zahl, unzählige EPs, noch mehr Features und andere Gemeinschaftprojekte: Das Gesamtwerk des Kurt Tallert lässt sich nur schwer umreißen. Eins steht jedoch fest: Egal, unter welchem Namen, in welcher Kombo oder auf welchem Track er auftaucht: Es bleibt kein Stein auf dem anderen. Wo also fängt man an, wenn man die Geschichte des Mannes erzählen will, der landläufig als Retrogott bekannt ist? Am besten wohl beim Urheber: Kurt Tallert, Jahrgang 1986, wächst in Bad Honnef auf, einem beschaulichen Städtchen im südlichen Köln-Bonner Einzugsgebiet. Wie in so vielen Familien, führen seine älteren Geschwister den jungen Kurt an die Musik heran. In seinem Fall handelt es sich dabei um die rohen, harten Klänge des Punk. Erst übers Skaten kommt er zum Hip Hop, wo ihn Mitte der Neunziger die Beastie Boys und der Wu-Tang Clan in ihren Bann ziehen. Er schätzt die Ästhetik und den Mitmach-Gedanken, wie er in späteren Interviews sagt. Viel mehr erfährt die Welt zunächst nicht über den studierten Germanisten, der seiner Heimatstadt für die nahegelegene Dom-Metropole Köln den Rücken gekehrt hat. Die musikalischen Wurzeln seiner Künstlerpersona (und deren Alter Egos) sind dafür umso deutlicher erkennbar. MF Doom, Nas, J Dilla, Masta Ace oder Pete Rock hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck beim jungen Retrogott. Dass er sich später allerdings vor allem mit berüchtigten Punchlines und durchdachten Raps einen Namen machen soll, war zu Beginn eher nicht absehbar. Kurt Tallert wird das erste Mal selbst aktiv, nachdem er A Tribe Called Quests "The Pressure" hört, das 1996 auf "Beats, Rhymes And Life" erscheint. Die relativ simplen, aber doch eingängigen Scratches zu Beginn des Songs spornen ihn an. Das DJing fasziniert ihn, später auch das Producing. Eigene Raps entstehen eigentlich eher als Nebenprodukt, ganz zufällig, in Ermangelung eines eigenen Plattenspielers. Die ersten dokumentierten Gehversuche unternimmt Tallert kurz nach der Jahrtausendwende, im Kreise der ENTBS-Crew, auch als Entourage Business bekannt. Kurt Hustle, wie sich der Retrogott zu dem Zeitpunkt nennt, verfügt noch nicht über die Präzision seiner späteren Version, wohl aber über denselben Biss. Es dauert nur bis 2007, bis die deutsche Rap-Landschaft erstmals mit der rohen, gleichzeitig aber humorvollen und intelligenten Scharfzüngigkeit Bekanntschaft macht, die diesen MC auszeichnet. Doch zuvor muss Kurt noch Hulk Hodn über den Weg laufen. ENTBS-Kollege O-Flow macht die beiden miteinander bekannt und schmiedet damit unwissentlich eine Allianz, die in den Augen vieler Deutschraps Rettung darstellt. Huss & Hodns "Jetzt Schämst Du Dich!" trifft Rap-Deutschland so unerwartet wie ein Schlag auf den Hinterkopf. In einer Zeit, in der sich die Szene gerade aus der Jeder-gegen-Jeden-Phase der Aggro-Jahre herauswühlt, erscheint die unverhohlene soundästhetische Rückwärtsgewandtheit von Huss & Hodn geradezu verwegen. Die zwei Kölner knüpfen nahtlos an die bis dato geradezu verpönten Boombap-Klänge an, die die vergangenen Jahrzehnte dominierten, und filetieren Wack MCs klug und mit einem irrwitzigen Größenwahn, der sich selbst eigentlich weniger ernst nimmt. Dass Hulk Hodn und Kurt Hustle ihr Debüt bereits zwei Jahre zuvor veröffentlichten, erscheint zu dem Zeitpunkt nur noch wie eine Nebensache. Nachdem "Der Stoff, Aus Dem Die Regenschirme Sind" 2009 den Weg in die Welt gefunden hat, wird es Zeit für ein Re-Branding. Aus Kurt Hustle wird Retrogott, ergo mutieren auch Huss & Hodn zu Retrogott & Hulk Hodn. Bis das Debüt unter neuem Namen ansteht, übt sich der oberste Heilige der Retrospektive allerdings in Namensvielfalt und Kooperationsfreudigkeit. Ob als Audiogott mit Audio88, als 2Trackboy mit dem Kölner Kollegen und Beat-Guru Twit One oder Der Witwenmacher im Verbund mit Hodn und Sylabil Spill aka Die Beleidiger: Die Wackness ist seiner Heiligkeit gnadenlos ausgeliefert. Der Retrogott schärft Waffen und Verstand gleichermaßen und bedient Metaebene über Metaebene über Metaebene. 2013 erscheint mit "Fresh Und Umbenannt" das passende Album zur neuen und mittlerweile sattelfesten Namensgebung. Es liefert trotzdem den altbekannten Sound, für den Fans bereits Huss & Hodn feierten. Mit "Sezession!", "Kontemporärkontamination" und "Land Und Leute" erscheinen bis 2020 vier Alben und mehrere Singles und EPs des Duos, der Releasefluss versiegt auch in den anderenorts dürren Corona- und Nach-Pandemiejahren nicht. Doch der Retrogott ist auch ohne seinen Partner in Crime mehr als umtriebig. Er veröffentlicht Gemeinschaftsprojekte mit Hubert Daviz ("Kokain Arlines", 2014) und dem Erfuter Sonne Ra ("Sonnengott", 2018) und unzählige EPs und Features. Hier geben sich nicht nur deutsche Legenden und Untergrundhelden wie Toni L und Torch, Main Concept oder Betty Ford Boy Dexter die Klinke in die Hand. Auch international macht sich der Retrogott Freunde, unter anderem Kool Keith und Motion Man. Die wohl produktivste aller internationalen Beziehungen pflegt der Kölner unterdessen mit dem kalifornischen DJ KutMasta Kurt, mit dem über den Zeitraum von 2013 bis 2018 insgesamt fünf EPs erscheinen. Abgesehen von ein paar Ausflügen in Richtung House, die sich übrigens ebenfalls hören lassen können, bleibt der Retrogott seiner Boombap- und Battlerap-Schiene treu. Was aber nicht heißt, dass er kein Raum für Wachstum und Entwicklung ließe. Während die Szene noch über Schwulen- und Ich-ficke-deine-Mutter-Witze lacht, distanziert sich sich Retrogott längst von alten Songtexten, die vielleicht nicht explizit homophob und sexistisch gemeint waren, sich aber trotzdem ebenjener Rhetorik bedienten. Was die Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-Dürfer als Einknicken vor dem Gutmenschentum und endgültige Angepasstheit des Retrogotts schmähen, ist eigentlich nur eine Rückbesinnung auf die Ur-Werte der Hip Hop-Kultur, die der Kölner seit jeher repräsentiert: eine Welt des Miteinanders, geschaffen von Minderheiten für Minderheiten, deren oberste Prämisse kreative Miteinbeziehung bedeutet, nicht snobistische Ausgrenzung. Trotz aller Erfolge, die Retrogott als Rapper feiert, sieht er sich selbst in erster Linie als DJ und Produzent. Vor allem aber betrachtet er sich als eher kleinen Teil eines viel größeren Ganzen, wie er im Interview mit dem 0711blog verrät und das gleichzeitig wohl ganz unwissentlich auch die beste Beschreibung seines Schaffens liefert: "Stolz ist ein Gefühl, das ich ablehne. Es ist ein selbstverständliches Gefühl, das alle Menschen empfinden, das aber schnell zur Selbstüberschätzung führt. Für mich ist Demut wichtiger. [...] Keiner sollte danach beurteilt werden, wann er geboren ist, woher er kommt oder wie er aussieht. James Brown inspirierte vielleicht Afrika Bambaataa, Bambaataa inspirierte Torch. Torch inspirierte mich. Das ist möglich, weil Musik und damit Hip Hop Generationen verbindet. Sie ist eine internationale Sprache." Wer sich für die Person hinter den mannigfaltigen Künstlernamen interessiert, bekommt im Frühjahr 2023 Aufschluss: Unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Tallert veröffentlicht Retrogott sein Debüt als Buchautor. In "Spur Und Abweg" spürt er dem Schicksal seines inzwischen verstorbenen Vaters und dessen Verwandten nach. Anders als viele andere Familienmitglieder, überlebte Harry Tallert den Holocaust. Wegen seiner teils jüdischen Abstammung von den Nazis schikaniert und später verhaftet, überstand er die Lagerhaft, wurde Journalist, vierfacher Vater, Bundestagsabgeordneter und Träger des Bundesverdienstkreuzes. Mindestens einem seiner Kinder scheint er seine den erlittenen Traumata geschuldete Skepsis gegenüber der Welt vererbt zu haben: Retrogotts Schaffen liefert, ob literarisch oder musikalisch, den sehr beredten Beweis dafür.
© Laut

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