Verschiedenere Gesichter als die des Shoegaze gibt es wohl nirgendwo sonst: Diese Spielart der Rockmusik, die zu Beginn der 90er Jahre in England aufblühte, war ein faszinierendes Kräftemessen zwischen gewaltig klirrenden Gitarren und hauchzarten Stimmen. Von Cocteau Twins und The Jesus & Mary Chain, seinen Vorläufern, bis hin zu seinen Verfechtern My Bloody Valentine, Ride oder Slowdive, ist der Shoegaze immer noch gut unterwegs.

Seine eigenen Schuhe bewundern… So könnte man Shoegaze oder Shoegazing übersetzen. Mit dem Kopf auf die Füße hinunter starren, ohne den Blick von der ganzen Reihe an Effektpedalen zu abzuwenden. In Gedanken aber ganz woanders, wenn nicht sogar richtig abwesend. Diese fassadenhafte Schüchternheit herangewachsener Teenager hat natürlich nichts mit dem zu tun, was aus den Gitarrenverstärkern kommt. Der Shoegaze ist dieses musikalische Genre, das Anfang der 90er Jahre vor allem jenseits des Ärmelkanals plötzlich zu hören war und dieser herrlichen Fusion zu verdanken ist: einerseits die durch Reverb-Effekte erzeugten Klangwände von elektrischen Gitarren und die andererseits recht schwelgerischen Popmelodien. Das Ganze wurde oft mit hauchzarten, wenn nicht sogar träumerischen Stimmen vermischt… Eine wahrhafte Kraftmeierei zwischen brutalen Sechssaiter-Bässen und engelhaft singenden Männer- oder Frauenstimmen, die sich anscheinend aus einem verklärten Chor fortgestohlen haben. Die bedeutendsten Vertreter dieses Stils sind natürlich My Bloody Valentine, aber auch Slowdive, Ride, Swervedriver, Lush, Pale Saints und einige andere. Eine kurzlebige Bewegung, der – NME und Melody Maker vorne weg – die britische Presse schnell zu Füßen liegt und die tiefe Spuren hinterlassen hat, sodass sogar noch heute Bands wie DIIV, Wild Nothing oder A Place To Bury Strangers stolz das Banner dieses elektrischen, immer recht melodiösen Tsunamis tragen…

Auch wenn sich die Vertreter der Shoegaze-Szene, Velvet Underground, Sonic Youth, Hüsker Dü, The Cure, Galaxie 500, Siouxsie And The Banshees und Dinosaur Jr. angehört haben, so sind doch zwei Gruppen die eigentliche Quelle, an der alle entweder mit einem Glas, einer ganzen Flasche oder sogar kubikmeterweise ihre Inspirationen abgeschöpft haben: Cocteau Twins und The Jesus & Mary Chain. Die eine wie die andere der beiden Bands beteiligten sich an diesem Tauziehen zwischen einer elektrischen Tonspur im Breitwandformat und eher sanften Stimmen und Melodien... In dem endlosen Ozean des New Wave der 80er Jahre bildeten die Cocteau Twins zwischen den Giganten Cure und U2 eine total abseits stehende Gruppe, die sich einen eigenen Weg bahnen konnte und von Jahr zu Jahr legendärer wurde. Von 1979 bis 1997 unterstützte der Mastermind Robin Guthrie mit erheblichem Krafteinsatz und vor allem mit erholsamen Klangteppichen seiner Gitarren die Engelsstimme seiner damals Angebeteten, Liz Fraser, die auf Englisch, aber auch in einer von ihr selbst erfundenen Sprache sang... Es war die bekannteste Gruppe des Labels 4AD und repräsentierte die schottische Version eines Dream-Pops, der unzählige Nachahmer fand, die ihm aber nie das Wasser reichen konnten. Sie brachten einen Klang und einen Stil hervor, die auf dem Walgesang von Guthries Gitarre basierten. Letzterer bot ein wahrhaftiges, elektronisches Klangbild, beeinflusste scharenweise Shoegaze- und auch Nicht-Shoegaze-Bands und umtanzte das zarte Organ seiner Geliebten… Das Paar trennt sich im Privaten wie im Geschäftlichen. Und Guthrie, der sich in Frankreich niederlässt, bringt von nun an in regelmäßigen Abständen wunderschöne, instrumentale Soloalben heraus…

Auch die anderen bilden „ein Paar“. Zwei Brüder, genauer gesagt. Richtige Erzfeinde. Aber es ist ja wohlbekannt: Was sich liebt, das neckt sich, und auf diesem Gebiet kassieren The Jesus & Mary Chain alle goldenen Schallplatten der Welt ein. Schon 1983 taten sich zwei Giftzwerge aus dem südlichen Glasgow, die Schotten Jim und William Reid zusammen, um die Gewalt von The Stooges und Ramones mit dem naiven, aus den Sixties stammenden Pop der Beach Boys und der Ronettes zu kombinieren. The Jesus & Mary Chain sagten es selbst: „Wir wollten Songs wie die Shangri-Las schreiben, die wie Einstürzende Neubauten klingen sollten! Ihr im Jahre 1985 erschienenes, legendäres Debütalbum Psychocandy war die Krönung dieser Philosophie. Sie haben das Kurzformat des Pop (weniger als drei Minuten pro Song) und eine Art Melodie verewigt, die man unter der Dusche summen kann. Das gelungene Ergebnis dieser Gleichung war Just Like Honey, das Sofia Coppola dann Jahre später für die herrliche Schlussszene ihres Films Lost In Translation übernehmen sollte. Die Brüder Reid bleiben noch eine Weile auf ihrem Trip im übersättigten Land, bis sie dann Ende 1999 das Handtuch werfen, weil sie von ihren ewigen Raufereien und allerlei Suchterfahrungen erschöpft sind. 2007 konnte sie ihr Manager dazu überreden, das Kriegsbeil zu begraben und wieder vernünftig zu werden. Beide halten sich brav daran und kehren 2017 sogar wieder ins Studio zurück, um das recht ehrwürdige Album Damage And Joy einzuspielen…

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