Hi-Res
In der Zeit zwischen seinen ersten Jahren bei Prestige und seinen letzten Jahren bei Impulse! hat John Coltrane beim Label Atlantic vier seiner wichtigsten Alben eingespielt: Giant Steps (1960), Coltrane Jazz (1961), My Favorite Things (1961) und Olé(1961). Jetzt, im Jahre 2020, feiert das erste davon seinen 60. Geburtstag in voller Pracht mit einer 35 Titel umfassenden Super Deluxe Edition (auf der ursprünglichen Platte gab es nur sieben, die hier zu Beginn zusammengefasst sind). Alles wurde natürlich geremastert und das Ganze enthält faszinierende Alternative Takes, von denen einige schon in vorangegangenen Versionen veröffentlicht wurden, andere wiederum kommen zum ersten Mal auf den Markt.Sobald der Saxofonist beim Label Atlantic unterschreibt, lassen ihm die Brüder Ertegun freie Hand und zum ersten Mal kann Coltrane mehr Zeit als gewohnt im Studio verbringen, um seine Aufnahmen auszufeilen. Neu ist auch, dass er der alleinige Urheber sämtlicher Titel auf dieser Platte ist. Das, was er hier spielt, ist höchst komplex und faszinierend, weil es seiner größten Leidenschaft nie in die Quere kommt: Musik und Melodie. Sein Sohn Ravi Coltrane (geb. 1965) sollte viele Jahre später einmal sagen: „Wenn die Leute von Giant Steps reden, betrachten sie es gerne als Test für junge Blasinstrumentalisten und sprechen auch von seiner Art, wie er bestimmte Titel erneuert. Das, was aber meiner Meinung nach besonders deutlich ist, ist die Zugänglichkeit. Trotz der Schwierigkeit mancher Stücke sind sie alle spielbar. Alles zusammen überfordert die Zuhörer nicht und ist recht beschwingt. Es macht Freude, Johns Musik zu studieren, sie zu spielen. Und auch, sie zu hören.“Die im Februar 1960 erschienene Platte wurde in den New Yorker Atlantic Studios im Laufe von vier Sessions im Vorjahr eingespielt. Der Saxofonist umgab sich dabei mit dem Kontrabassisten Paul Chambers, dem Pianisten Tommy Flanagan und dem Schlagzeuger Art Taylor. Zwischen Miles Davis‘ legendärem Kind of Blue, an dem John Coltrane beteiligt war und der ersten Session für Giant Steps lagen nur knapp zwei Wochen. Diese beiden Meisterwerke sind beide gleichermaßen revolutionär und dennoch haben sie nicht das Geringste miteinander zu tun. Auf dem gleichnamigen Opener Giant Steps wirft der Saxofonist im Alleingang auf spektakuläre Weise alle Regeln über den Haufen, wogegen sich seine Sidemen im Hintergrund mehr oder weniger weiterhin daran halten. Angesichts solch harmonischer Erdbeben beweist das melancholisch wunderschöne Naima-Thema, eine der schönsten Kompositionen, die Coltrane Juanita Naima Grubbs, seiner ersten Frau gewidmet hatte, wie weit die Hardbop-Semantik des Saxofonisten reicht. Einerseits mit seiner alle Gipfel erreichenden Virtuosität, andererseits mit unendlich viel Poesie. In dem kurzen Countdown kündigt seine Phrasierung schon die ersten Ansätze des Freejazz an, den er später entwickeln sollte. Ein solcher Titel ist mehr oder weniger eine Kurzfassung all dieser Riesenschritte, die der Jazz in diesem Jahr 1960 macht. Schritte, über die wir auch sechzig Jahre später noch staunen. © Marc Zisman/Qobuz