Vor vier Jahren veröffentlichte Decca Nino Rotas gesamtes Orchesterwerk Vol. 1 unter der Leitung von Giuseppe Grazioli. Nachdem kürzlich das fünfte Opus erschienen ist - mit "La Strada" als Höhepunkt - und das sechste Opus schon vorbereitet wird, haben wir den Mailänder Dirigenten aufgesucht, und er erzählte uns Genaueres über dieses faszinierende, gigantische, unentbehrliche Unternehmen.

Wie kam man auf die Idee, Nino Rotas gesamtes Orchesterwerk zu veröffentlichen? Haben Sie sich mit den urheberrechtlich betroffenen Personen direkt in Verbindung gesetzt, um dieses wahnsinnige Projekt zu verwirklichen?

Im Jahre 2010/11 hatten wir zusammen mit dem Mailänder Symphonieorchester Giuseppe Verdi und seinem Präsidenten Luigi Corbani eine Serie mit zehn Konzerten geplant, um den 100-jährigen Geburtstag des Komponisten zu feiern. Da die Konzerte viel Erfolg hatten, wollten wir, dass von der ganzen Arbeit Spuren bleiben, deshalb begannen wir, für Decca eine erste, aus drei Teilen bestehende Serie einzuspielen. Wegen der großen Nachfrage ersuchte uns Decca um drei weitere Einspielungen, die insgesamt zwölf Stunden Musik darstellen! Im Grunde wollten wir zeigen, dass Nino Rota nicht nur an Kino interessiert war. Mehrere überkommene Vorstellungen von ihm störten mich immer schon, seit ich seine Musik studierte und dirigierte: Die Tatsache, dass man ihn immer den „Musiker von Fellini“ nannte, dass man im Konservatorium seine Kompositionen nicht analysierte, dass man ihm vorwarf, er könne nur schreiben „wie der oder der…“, und dass man seinen persönlichen Stil nicht anerkannte. Francesco Lombardi, ein Neffe von Nino Rota und Redakteur des Gesamtkatalogs seiner Werke hat mir die unveröffentlichten Originalversionen einiger Kompositionen zukommen lassen. Zusammen mit Rotas ehemaligem Schüler und Assistenten Bruno Moretti hat er mir auch geholfen, die Filmmusik, die bei der Montage der Filme infolge des Timings „massakriert“ worden war, zu rekonstruieren.

Die Frage der Stückeauswahl stellte sich nicht, da es sich um eine Gesamtausgabe handelt. Nichtsdestotrotz war es notwendig, die verschiedenen Werke zusammenzustellen, sie auf mehrere Ausgaben zu verteilen und Playlists zu erstellen. Wie sind Sie vorgegangen?

Im Unterschied zu anderen Komponisten für Filmmusik wie etwa Ennio Morricone oder John Williams; die beide total verschiedene Stile haben, je nachdem, ob sie für einen Konzertsaal oder für die Leinwand schreiben – bleibt Nino Rota immer derselbe. Schon nach ein paar Sekunden weiß man, wer der Autor ist, egal ob man nun sein Fagottkonzert oder den Soundtrack für La Strada hört. Da ich einen absolut ehrlichen Komponisten vor mir hatte, der keinen Hang zu Hierarchie zwischen den verschiedenen Musikgattungen zeigte, schien es mir durchaus kohärent zu sein, seine…Inkohärenz zur Geltung zu bringen. Deshalb habe ich versucht, in jeder Ausgabe mehrere Bereiche, in denen Rota gearbeitet hat, miteinander zu kombinieren: die Filmmusik mit sinfonischer Musik, die Kammermusik mit Solokonzerten, die Bühnenmusik oder die für die Studenten des Konservatoriums in Bari geschriebene Musik mit den Opernballetten. Ich hatte gleich gemerkt, dass gewisse Melodien, die er sich für einen Film ausgedacht hatte, in einer Sinfonie wiederkehrten, und später in einem Ballett oder einer Oper. Übrigens hatte ich bei meiner Arbeit ein Interview im Kopf, in welchem Nino Rota behauptet hatte, dass die Haltung eines Komponisten konstant sein müsse, egal ob er nun einen Song für das Fernsehen schreibe, Variationen für einen Pianisten oder gar ein großes Oratorium. Die Art, wie das Publikum die Musik hört, ist das, was sich ändert, nicht der Einsatz des Komponisten; dieser muss immer sein Bestes geben.

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