Mit "Idiot Prayer" veröffentlicht der Australier ein zauberhaftes Klavier-Soloalbum, ganz ohne seine Bad Seeds...

Lang, lang ist’s her, dass Nick Cave, diese radikale Rock-Furie, dieser etwas reizbare Punk-Entertainer sich für die Gespenster der damaligen Koryphäen Elvis Presley, Johnny Cash und Howlin’ Wolf begeisterte. Die scharfen Kanten sind mit der Zeit abgestumpft, der Australier hat neue Wege beschritten und den wahrscheinlich größten Verlust erlebt, als sein 15-jähriger Sohn aus dem Leben schied. Die Kunst des Leaders der Bad Seeds fand in Skeleton Tree (2016) und Ghosteen (2019) ein mystisches Ventil. Die ganze Menschheitsgeschichte hindurch kann man zurückverfolgen, wie Kunst in der Trauer, für die Trauer und aufgrund der Trauer geschaffen wird und diese beiden Alben riefen uns das auf unerbittliche Weise in Erinnerung. Das im Herbst 2020 erschienene Idiot Prayer bleibt mit einem Bein in formeller Feierlichkeit verankert, inhaltlich aber nicht. Das ist zwar gewollt, ist jedoch in erster Linie auf die Pandemie zurückzuführen, die das Jahr 2020 erschüttert hat. Nick Cave sitzt also hier im Londoner Konzertsaal des Alexandra Palace an seinem Klavier, allein, es gibt weder Bad Seeds noch Publikum. Seine Aufführung lief am 23. Juli 2020 als Live-Stream. Für diese erstmalige Darbietung stellte er ein Repertoire zusammen, das über seine beiden letzten Alben (von denen er nur drei Songs übernahm) hinausging, denn er stöberte dafür in den alten Platten der Bad Seeds (Stranger Than Kindness, The Ship Song, Black Hair, (Are You) the One That I've Been Waiting For, The Mercy Seat…) und denen seiner anderen Gruppe, Grinderman (Man in the Moon, Palaces of Montezuma…). Nur eine neue Komposition fügte er hinzu, eine melancholische, überwältigende Hymne über den Verlust, Euthanasia

In dem grandiosen Gebäude im viktorianischen Stil aus dem 19. Jahrhundert klingt seine Stimme mehr als perfekt, wenn sie um seine Worte aus Fleisch und Blut sowie seine surrealistische oder konkrete Poesie kreist und sie vor uns ausbreitet. Nick Cave ähnelt hier dem Darsteller Robert Mitchum in Die Nacht des Jägers, wenn dessen eigene, mit den Worten LOVE und HATE tätowierten Hände miteinander ringen. Mit seiner Mischung aus Love Songs, Murder Ballads und gequälten Hymnen macht der australische Crooner eine Besichtigungstour seines Schaffens, das man als herrlichen Juwel in Erinnerung behält. Und dank dieser schlichten Instrumentierung erreicht seine Stimme ungeahnte Höhen, sodass sich die Wirkungskraft seiner alten Songs um ein Zehnfaches vermehrt. Grandios.

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