Die Legende des amerikanischen Jazz erfindet sich an der Spitze einer Supergroup neu und veröffentlicht ein berührendes Album.

“Wenn ich heute spiele, dann tue ich das als Fortsetzung all dessen, was ich zuvor erlebt habe, mit all dem Wissen und der Weisheit, die die Reife mit sich bringt”, erzählte Charles Lloyd vor fünf Jahren anlässlich seines 80. Geburtstags dem französischen “Jazz Magazine”. “Ich spüre immer noch etwas von einer ständig wiederkehrenden Vitalität in mir, wie eine Art ewiger Frühling, aber ich mache einen neuen, weniger kostspieligen Gebrauch davon, indem ich mit viel weniger Mitteln viel mehr sagen kann. Der Lauf der Jahre ist nur dann von Vorteil, wenn Sie sich bemühen, bewusst Lehren aus ihnen zu ziehen, um sich selbst besser kennen zu lernen. Dann geschieht etwas Wunderbares: der Moment, in dem es Ihnen als Künstler gelingt, authentisch in Ihrer ‘eigenen Zeit’ zu leben, außerhalb des Trubels und der Verwirrung der Welt.”

Wie dieses bewegende und klare Bekenntnis zwischen den Zeilen andeutet, ist die alles andere als weichgespülte und rückwärtsgewandte Gelassenheit, die Charles Lloyd heute für sich beanspruchen kann (und von der sein neues Album The Sky Will Still Be There Tomorrow ein meisterhaftes Zeugnis ablegt), das Ergebnis eines langen und stürmischen Weges. Wie ein Phönix aus der Asche erfand er sich immer wieder neu und führte seinen natürlich flammenden Stil in einen ewigen Kreislauf der Metamorphosen, hin zu immer mehr Sparsamkeit, Einfachheit und emotionaler Tiefe.

Mitte der 60er Jahre stieg Lloyd mit dem phänomenalen Erfolg eines von Coltrane inspirierten Quartetts mit dem Pianisten Keith Jarrett, der damals am Anfang seiner Karriere stand, in einen für Jazzmusiker eher seltenen hohen Bekanntheitsgrad auf (das Album Forest Flower: Live at Monterey verkaufte sich über eine Million Mal!). Darauf folgte ein zehnjähriger Rückzug, aus dem er erst zur Wende der 80er Jahre an der Seite eines anderen Klaviervirtuosen, dem damals noch unbekannten Franzosen Michel Petrucciani (siehe Montreux 82 und A Night in Copenhagen), aufwachte.

In den 1990er Jahren, als Charles Lloyd bereits 50 Jahre alt war, begann er mit Fish out of Water, der ersten Platte einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit ECM, die bis 2013 andauern sollte, seine authentische Stimme zu finden. Er veröffentlichte zahlreiche herausragende Alben mit einer Vielzahl von Spitzenmusiker und -musikerinnen — Canto (im Quartett mit dem Pianisten Bobo Stenson); Voice in the Night; das Meisterwerk The Water Is Wide (mit Brad Mehldau, John Abercrombie, Larry Grenadier und Billy Higgins); Lift Every Voice (mit Geri Allen); oder Rabo de Nube (zum ersten Mal mit Jason Moran an seiner Seite). So schafft es der brillante Künstler, durch eine immer persönlichere und bewegendere Musik, die ideale Synthese zwischen seinen drei großen Einflüssen — John Coltrane, Charlie Parker und Lester — zu vereinen.

Charles Lloyd, der seit 2015 mit Wild Man Dance zum Label Blue Note gewechselt ist, scheint heute kreativer denn je zu sein. Nach zwei CDs, Vanished Gardens und Tone Poem, die eine sehr persönliche Neuinterpretation des Americana mit der Band The Marvels und der Folk- und Countrysängerin Lucinda Williams boten, und seiner fantastischen “Trio-Trilogie”, die ihn in sehr unterschiedlichen Orchesterkonstellationen vorstellte (Trios: Chapel mit Bill Frisell und Thomas Morgan; Trios: Ocean mit Anthony Wilson und Gerald Clayton; und Trios: Sacred Thread mit Julian Lage und Zakir Hussain), kehrt er heute, im Alter von 85 Jahren, mit einem meisterhaften und monumentalen neuen Album The Sky Will Still Be There Tomorrow zurück.

An der Spitze eines neuartigen Quartetts in Form einer Supergroup, bestehend aus dem Pianisten Jason Moran, dem Kontrabassisten Larry Grenadier und dem Schlagzeuger Brian Blade, taucht der Saxophonist hier mit dieser absolut unnachahmlichen Mischung aus intensiver Sinnlichkeit und mystischer Tiefe in das Innerste seiner Poetik ein. Charles Lloyd greift in einer einfühlsamen und brüderlichen Geste die gesamte Jazzgeschichte auf, um seine eigenen inneren Gebiete zu erforschen, und hat ein wahrhaft gnadenvolles Album geschaffen.