Mitten im Krieg singen sie in Paris vor 50 bis 60 Zuhörern in unterirdischen Höhlen ihre noch wenig profitablen Lieder. Doch die Ikonen des französischen Chansons haben alles überlebt. Dass sie fast alle Jazzfans waren, Chanson und Jazz in Frankreich gemeinsam groß wurden, ist wenig bekannt. Eine Spurensuche beim inneren Zirkel.

Gegen Ende der 1920er Jahre, der années folles, erleuchten Jazz und Kubismus, Dadaismus und Surrealismus von Paris aus die Welt. Charles Trenet studiert Design in Berlin und schwört auf Duke Ellington und Fats Waller. 1935 singen Trenet und Jean Sablon erstmals in ein Mikrofon, wodurch ihr Vortrag leiser, intimer wird. Mit Django Reinhardt interpretiert Sablon Trenets Rendez-vous sous la pluie, noch erfolgreicher wird Vous qui passez sans me voir.

Drei Jahre später steht Trenet als « Swing Troubadour » auf der Bühne, und der « französische Gershwin » (Cole Porter) schreibt mit dem Pianisten Johnny Hess jazzige Chansons. Jazz ist nur eine Farbe seiner Palette, 1942 wird aus Que reste-t-il de nos amours? der Welterfolg I Wish You Love, Douce France von 1947 wird zu einer heimlichen Nationalhymne. Wie Sinatra und später Aznavour ist Charles Trenet auch ein Spezialist für « first takes », seine raffinierte Silbenkunst in Débit de l’eau débit de lait funktioniert wie ein Jazzsolo.

Jazz ist während der deutschen Be­satzung in Paris nie offiziell verboten und wird zum Symbol der Befreiung. Dreimal hintereinander muss der ­Ma­nouche Django Reinhardt 1941 in der vollen Salle Pleyel sein Nuages spielen, das jene Epoche so dunkel überwölkt. Der Swing beflügelt die langhaarigen, ausgefallen gekleideten Zazous. Im Zug nach Perpignan schreibt Trenet (« ein Zazou vor meiner Zeit »), was er draußen sieht: La Mer. Heute liegt es in über 4000 Versionen vor und wurde über 70 Millionen Mal verkauft.

Leise trennt das Leben die Liebenden, verwischt die Spuren im Sand, über die der kalte Nordwind weht. Im Film Les Portes de la nuit ertönt 1946 nach langem Vorspiel erstmals Les feuilles mortes. Die Verse von Jacques Prévert sind pure Lautpoesie: « Toi tu m’aimais, moi je t’aimais … ». Anfangs ein Riesen­erfolg für Yves Montand, danach von Juliette Gréco existenzialistisch interpretiert mit Streichquartett, Flöte und Posaune. Als Autumn Leaves wurde es zu einem der zehn meistgespielten Jazzstandards aller Zeiten.

Yves Montands Stimme ertönt in Musette-Walzern wie Sous le ciel de Paris. Mit Battling Joe, Planter café und vor einer Dixieland-Band in Mon manège à moi wird der spätere Kinoheld zum Plattenstar. In Henri Crolla hat er den zweitbesten Gitarristen nach Django. C’est si bon wird von Louis Armstrong gekapert und vergoldet.

Wie Billie Holiday wurde auch Edith Piaf als tragisch-schlichte Songschreiberin unterschätzt. Ihr La vie en rose von 1947 im Glenn-Miller-Sound wollte lange niemand vertonen, erste Ideen schrieb sie 1944 auf eine Café-Tischdecke für die Ode aufs rosa Leben, die nach ihr Marlene Dietrich, Grace Jones und Madeleine Peyroux sangen. Nie klingt die Piaf « unfranzösischer », jazziger als 1960 in La Ville inconnue, vielleicht inspiriert von Fahrstuhl zum Schafott, dessen Soundtrack Miles Davis 1957 live zur Leinwand improvisierte.

Nach Kriegsende löst Saint-Germain-des-Prés am linken Seine-Ufer die Künstlertreffs von Montparnasse ab, wo Hemingway und Modigliani verkehrten. 1948 erleben viele die Dizzy Gillespie Big Band in der ausverkauften Salle Pleyel. Beim ersten Jazzfestival lernt Juliette Gréco den Trompeter Miles Davis kennen (und lieben). Henri Salvador erfindet ein hinreißendes Chanson surréaliste. Charlie Parker und Sidney Bechet erobern Paris, hauptverantwortlich für die Jazzbegeisterung der Franzosen ist Bechet, Les Oignons wird ein Millionenhit, Petite Fleur ein Standard.

« Unsere verrücktesten Jugendträume erfüllten sich », schreibt die Gréco. « Miles, Parker, das Modern Jazz Quartet, Kenny Clarke – sie alle waren hier und Paris wieder Weltmetropole. » Die Amerikaner auf Durchreise kommen nach dem Konzert in den subterranen Rive-Gauche-Treffs zu Jamsessions mit den Europäern zusammen. Die Chansonnière Gréco liebt Jazz, der Jazzgitarrist Sacha Distel entdeckt in sich den Chansonnier. Nach einem Konzert von Georges Brassens summen alle die Melodien des Troubadours aus Sète. Der sagt, « Ich kam zur Welt mit Django, Armstrong, Ellington. Als 12- oder 13-Jähriger, um 1931/32, wurde es ernst. Django liebe ich besonders, dem kann ich ewig zuhören. »

Nur in Paris können Jazzer überleben. Von Algiers aus überquert der Pianist Martial Solal das Mittelmeer, ohne Diplome, Kontakte, Geld. Von Marseille an die Seine gekommen, ist er an der Place Pigalle, wie er sagt, « spätnachmittags einer von 100-150, die einen Job für einen Ball oder eine Gala suchen. » Solal hat Glück und wird für zehn Jahre Hauspianist im Club Saint-Germain, « damals die erste Adresse ». Musikalische Zwiegespräche freier Geister bieten auch das Tabou, Le Chat Qui Pêche, Caméléon und Blue Note. « Doch die Musiker profitierten nicht von dem Presserummel, auf Sänger, Sängerinnen und Philosophen zielte man ab. »

Im Club Saint-Germain fällt Solal, der für Godards Filmdebüt Außer Atem die Musik liefert, jemand auf, der ihm ständig zuhört: Serge Gainsbourg. Geboren als Lucien Ginzburg, trug er als einziger in der Klasse den gelben Stern, machte nicht das Abitur. « Er verstimmt das Klavier, wenn er seinen Jazz spielt, » stöhnte die Lehrerin. Der Arrangeur Alain Goraguer flößt den Cool Jazz in Gainsbourgs L’Alcool und En relisant ta lettre, die Reflexionen eines pessimistischen Dandys, très-jazzy Saint-Germain.

1954 erlebt Gainsbourg live Billie Holiday und Gloomy Sunday. Wie der Jazzchronist Boris Vian mag er Chansons erst, als er selbst welche schreibt. Les amours perdues gibt er Juliette Gréco. Im Theater sieht er 1962 tief beeindruckt The Connection mit dem Living Theatre und dem Saxofonisten Jackie McLean. Mit Elek Bacsik an der E-Gitarre entsteht Gainsbourg confidentiel. Nach einem Dinner bei Gréco im 6. Bezirk tanzt sie vor ihm, worauf ihr Serge anderntags ­Orchideen und La Javanaise schickt.

Nach Konzerten mit dem Art Ensemble of Chicago nimmt Brigitte Fontaine mit der Band Comme à la radio auf: Grand Prix du Disque 1970. Barbara, « la femme piano », gibt Jazzmusikern Traumrollen – dem Holzbläser Michel Portal in Pierre, Le mal de vivre und Mon Homme, dem Organisten Eddy Louiss und dem Arrangeur Michel Colombier. Der Jazzpianist Maurice Vander hat einen Dauerjob bei Claude Nougaro, der amerikanische Jazzhits mit eigenen Texten versieht: À Bout de souffle basiert auf Brubecks Blue Rondo À La Turk, Un été beruht auf Estate, mit Bidonville (Baden Powells Berimbau) hilft er, brasilianische Musik populär zu machen.

Ein Chanson ist eine Idee, ein Gefühl, ein Nachdenken, eine Geschichte, ein Spiel mit Worten

« Ich fühle mich als Franzose armenischer Herkunft und nicht als Armenier aus Frankreich. Meine ‚Patchwork-Vergangenheit’ habe ich nie zu verfälschen versucht », schreibt Charles Aznavour(ian). Jazz singend wird er zu einem Sinatra à la française, wie in On ne sait jamais (1964). « Wir haben Musik gehört, die von den Älteren damals als ‚Negermusik’ bezeichnet wurde. Chansons galten schlichtweg als niedere Kunst. Ein Chanson ist aber eine Idee, ein Gefühl, ein Nachdenken, eine Geschichte, ein Spiel mit Worten. » Voller Pathos gesteht er J’en deduis que je t’aime. Wie ein Eisbär auf Schlittschuhen in Elle a le swing au corps. Für ihn sind es « jazzige Chansons, deren Stil dem amerikanischen Geschmack entsprach, wie wir ihn uns vorstellten. » Mit fünfzehn französischen All-Stars reaktiviert er 1998 auf dem Album JazzNavour eigene Klassiker. Und Henri Salvador hat im Jahr 2000 ein Comeback mit Chambre avec vue, einer swingenden Beschallung für Espressobars weltweit.

*Beitrag aus dem Fono Forum/März 2023. Das monatlich erscheinende Magazin Fono Forum bietet mit seinen Rezensionen, Artikeln und Interviews einen umfassenden Blick über die neuesten Plattenerscheinungen sowie das Musikgeschehen der Genres Klassik und Jazz.