Nick Cave und seine Bad Seeds gelten nach wie vor als eines der produktivsten Abenteuer aus der Postpunk-Ära. Schon Ende der 80er Jahre erreichte die betörend tiefe Stimme des Australiers einen gewissen Höhepunkt unter all den wütenden Wiederaufnahmen, Klavierballaden und schweißgetränktem Rock’n’roll. Im Laufe der Jahre wurde der Cave immer mehr Crooner, irgendetwas zwischen einem punkigen Frank Sinatra und einem enthaltsamen Johnny Cash…

Das Bild kommt vor dem Ton. Wenn man diesen Namen Nick Cave bloß ausspricht, so hat man schon eine Visage vor sich. Der Rock’n’Roll hat immer besonderen Wert auf Gesicht, Haltung, Look und Erscheinen gelegt und der Bandleader der Bad Seeds ist der Inbegriff dieses extramusikalischen Charismas schlechthin. Nick Cave hat glücklicherweise auch – und vor allem – einen Stil und eine Stimme. Am Beginn seiner Karriere, Anfang der Siebzigerjahre, stürzt sich der, an einem Herbsttag des Jahres 1957, 300 Kilometer nördlich von Melbourne in Warracknabeal, geborene Cave absichtlich in den verheerenden Punkrock der The Boys Next Door, die 1980 The Birthday Party werden. Die Gang der Postpunks verlässt ihr heimatliches Australien Richtung Europa. London, dann Westberlin. Destrukturierter Rock, massakrierter Blues, Punkrockenergie, allerlei Alkohol und Drogen, dieses hübsch und düster vertonte Chaos ist vor allem dem charismatischen Cave zu verdanken, der auf „destroy“ macht wie nie zuvor… Um 1983 lassen sich Cave und Harvey auf das Abenteuer Bad Seeds ein. Der kryptisch-dadaistische Blixa Bargeld, der gleichzeitig seine eigene Industrial-Band Einstürzende Neubauten hat, schließt sich ihnen an. Der hervorragende amerikanische Gitarrist Kid Congo (der auch bei den Cramps und in der Band Gun Club noch mitwirken sollte) ist zwischen 1986 und 1990 Mitglied der Band. Ihre Musik schwenkt zu dem Zeitpunkt in eine bestimmte Richtung, um bei den Pionieren des Blues und im primitiven Rock Wurzeln zu schlagen. Diese extreme, punkartige Haltung hält aber diese Freakbande keineswegs davon ab, musikalisch wirklich Wertvolles vorzubereiten und das 1986 gecoverte Album Kicking Against The Prick beweist es - eine herrliche Platte, die einzig und allein aus stilvollen, von John Lee Hooker, Mickey Newbury, Johnny Cash, Leadbelly, Roy Orbison, Velvet Underground oder Gene Pitney gezeichneten Wiederaufnahmen besteht.

Mit seinen Bad Seeds signiert Nick Cave in dieser Zeit himmlische Alben wie etwa Tender Prey, wo er anzügliche Balladen und nüchternen, gewaltvollen Rock auf perfekte Art kombiniert. Es erscheint im September 1988 und der Australier ist an einem Wendepunkt in seiner Karriere angelangt. Aus seiner Stellung der bewanderten Punkikone heraus wandelt er sich zum Gesamtkünstler, dabei kommt ihm seine Teilnahme in Wim Wenders Film Himmel über Berlin zugute, der ein Jahr zuvor herausgekommen war, aber auch die Tatsache, dass er angefangen hatte, seinen ersten, von Faulkner inspirierten Roman And The Ass Saw The Angel zu schreiben, der dann 1989 veröffentlicht wird. Dieses fünfte Album der Bad Seeds ist vor allem die erste wirklich gelungene Synthese aller Phantasmen ihres charismatischen Leaders. Der in seinen dandyhaften Punkpaletot gekleidete Cave tut, als ob er die Trashversion eines Tom Jones, Elvis Presley und Johnny Cash wäre, wobei er zwischen Vintage Rock’n‘Roll (Deanna) und anzüglicher, ja sogar barocker und hochtrabender Ballade (Watching Alice) in der Art und Weise eines Scott Walker (The Mercy Seat, den übrigens Johnny Cash übernimmt, bevor er dann stirbt) hin und her wandert. Die Spannung von Nick Caves ersten Soloplatten sowie denen seiner vorigen Band Birthday Party ist sehr wohl da, aber in diesem Fall ist sie auf die Songs eines ganz anderen Kalibers zurückzuführen. Tender Prey ist deswegen faszinierend, weil es auf bestimmte Art Radau macht und dabei sogar die Rock’n’Roll-Ideale und seine Nebenprodukte wiederaufnimmt, um sie in ein morbid schönes Pseudokabarett zu versetzen. Selten hat der Rock so laut an das Höllentor geklopft…

Je mehr Alben er herausbringt und vor allem je mehr Jahre vergehen, desto mehr weicht seine Punkseele der des Crooners. Mit The Good Son (1990), Henry's Dream (1992), Murder Ballads (1996), The Boatman's Call (1997), No More Shall We Part (2001) oder auch Nocturama im Jahre 2003 steht er zwischen den aus den amerikanischen Südstaaten stammenden Schriftstellern des 20. Jahrhunderts mit ihrer gotischen Prosa und dem musikalischen Erbe großer Leute wie Frank Sinatra, Hank Williams und Johnny Cash. Dabei findet er seinen eigenen Stil, der oft kammermusikalisch, aber immer düster und wie heimgesucht von einer seiner Bettlektüren, dem Alten Testament, klingt,…

Ende 2006 macht Nick Cave mit den Bad Seeds, Jim Sclavunos, Warren Ellis und Martyn P. Casey ein neues Ausweichmanöver mit eindeutigem Garage Rock unter dem Namen Grinderman. Dadurch variiert er zwischen dieser neuen Band, die den bunt zusammengewürfelten Brüdern der Bad Seeds ähnelt, den (echten) Bad Seeds, der Filmmusikkomposition mit Ellis, Literatur (dem heiteren, 2009 veröffentlichten Tod des Bunny Munro) und betörenden Duetten, insbesondere mit PJ Harvey (Henry Lee), Shane MacGowan von den Pogues (Death Is Not The End und What A Wonderful World), Johnny Cash (I'm So Lonesome I Could Cry), Debbie Harry von Blondie (The Breaking Hands), Neko Case (She’s Not There) und sogar Kylie Minogue (Where The Wild Roses Grow).

Das herrliche Album Push The Sky Away aus dem Jahre 2013 stellt eine Art Höhepunkt für Nick Cave und die Bad Seeds dar. Seine Prosa wird immer literarischer und mystischer, aber auch abstrakt. Warren Ellis spielt eine immer größere Rolle in musikalischer Hinsicht und erreicht hier in gewisser Weise einen Gipfel. Auf der folgenden Platte, Skeleton Tree, die drei Jahre später erscheint, kommt das auf zehnfache Weise zum Ausdruck. Das künstlerische Schaffen in Trauer und wegen Trauer hat es seit urdenklichen Zeiten, die ganze Geschichte der Menschheit hindurch, gegeben. Mit dieser Platte ist Cave nun ein neuer Meister in diesem drückenden und lähmenden Umfeld. Eingespielt hat der Australier dieses sechszehnte Album der Bad Seeds nach dem tragischen Tod seines 15-jährigen Sohns Arthur, der LSD genommen hatte und von einem Felsen gefallen war… Man kann also dieses Werk an keiner Stelle hören, ohne an diese Tragödie denken zu müssen, obwohl einige der Songs vor dem Ereignis entstanden waren. Nick Cave schüttet hier sein Herz aus wie nie zuvor! Zwischen durchlebter Erschütterung und aufgezeichneten Worten und Noten gibt es keine Zurückhaltung mehr. Schlicht, salonfähig, ungeschminkt, ohne ins Auge zu springen. Eben wie er es auch am Anfang der Platte „With my voice, I am calling you“ beschreibt. Das ist alles…

Nie profitiert der Bandleader der Bad Seeds von diesem dramatischen Hintergrund, um dem Zuhörer irgendein Messer an die Gurgel zu setzen, damit er aus Mitleid seine Platte ins Herz schließt. Dieser lange, gedämpfte Blues ist wie ein quälend schönes Requiem. Seit einigen Jahren schon hat der Songwriter die reine Erzählung abgehakt und seine Platten enthalten nun Kompositionen, die mehr an Poesie, Predigten, ja sogar an Elegien als an Songs denken lassen. Er denkt hier laut. Spricht zu diesem dahingeschiedenen Sohn. Wendet sich an den Himmel, an den er nicht glaubt; oder nicht mehr glaubt. Und sein getreuer Warren Ellis neben ihm bringt seine genialen instrumentalen Einfälle in dieser bewegenden Prosa unter, die so spartanisch daherkommt…Auf seinem Skeleton Tree sucht Nick Cave keinerlei Ventil, keinerlei S.O.S.-Ruf. Die Lage, in der er sich befindet, ist der Brennstoff seines künstlerischen Schaffens. Ein so kräftiger Zündstoff, dass dabei am Ende eine seiner hervorragendsten Platten herauskommt…

Deutsche Fassung: Irène Besson