Der Ruf des vor kurzem verstorbenen großen Pianisten gründet sich auf einigen Paradoxien, vor allem auf seiner selten intimen und zugleich anspruchsvollen Beziehung zum Publikum, während seine Kunst ganz von Zartgefühl und Diskretion geprägt war. In seiner Heimat war er ein Wunderkind, blieb als Erwachsener jedoch bescheiden und hielt sich vom lärmenden Getöse des Ruhms fern. Seine großen Hände und seine mühelose, virtuose Technik dienten einem kräftigen, vollen und weichen Ton, den er mit Respekt und Bewunderung für seine Landsmännin Guiomar Novaes pflegte. Ihre Aufnahmen hörte er mit Begeisterung an. Sie führte ihn gewissermaßen durch seine gesamte Karriere. Die Freundschaft zwischen Nelson Freire und Martha Argerich ist legendär, ihre gegenseitige Bewunderung und ihre perfekte musikalische Übereinstimmung haben in Konzerten und auf Aufnahmen wunderbare Spuren hinterlassen.

Nelson Freire wurde im Bundesstaat Minas Gerais geboren, der für seine fantastischen Barockkirchen und Edelsteine bekannt ist. Er war ein kränkliches, introvertiertes Kind und vertraute sich nur dem Klavier an, das er im Alter von drei Jahren zu entdecken begann, indem er seine Schwester beim Üben beobachtete. Seine Fortschritte waren rasant. Als er 13 Jahre alt war, gewann er mit Beethovens 5. Klavierkonzert den Internationalen Klavierwettbewerb in Rio de Janeiro. Dort lernte er Guiomar Novaes kennen, die in der Jury saß und ihn sofort unter ihre wohltuenden Fittiche nahm. „Ihr Spiel faszinierte mich", sagte er später, „ihr Klang war geschmeidig, silbrig, spontan".

Bald ermöglichte ihm ein Stipendium, nach Europa zu kommen und beim legendären Professor Bruno Seidlhofer in Wien zu studieren. Dort lernte er Friedrich Gulda, Nikita Magaloff, Stefan Askenase sowie Martha Argerich kennen, die bei demselben Lehrer studierte. Er war 15 und sie war 18 Jahre alt. Ihre Freundschaft hielt bis zu seinem Tod an, und obwohl er einer der wenigen Musiker war, die ihr die Stirn bieten konnten, hatte seine Jugendfreundin auch Einfluss auf ihn, indem sie ihn zum Beispiel in den Jazz einführte, der zu einer seiner Leidenschaften wurde. Er liebte die Stimme und die Kunst von Ella Fitzgerald ebenso wie die ansteckende Freude des Pianisten Erroll Garner.

Ende der 1960er Jahre begann Nelson Freire mit dem Dirigenten Rudolf Kempe in München einige Platten für Columbia aufzunehmen, die zunächst Beachtung fanden und mit Preisen ausgezeichnet wurden, dann aber völlig in Vergessenheit gerieten. Dabei sind es Wunderwerke mit drei großen Konzerten des Klavierrepertoires: Tschaikowsky, Grieg und Schumann, die von dem 25-jährigen leidenschaftlichen Pianisten mit unvergleichlicher Virtuosität interpretiert werden. Der Rest des Programms (inzwischen neu aufgelegt und natürlich auf Qobuz verfügbar) ist den Komponisten gewidmet, die auch den Großteil seines Repertoires ausmachen sollten: Schumann, Brahms, Chopin und auch Schubert. 1972 nahm Nelson Freire die Préludes von Chopin auf, wofür er den Edison-Preis erhielt.

Lange verborgen

Trotz seines fulminanten Karrierebeginns in 70 Ländern blieb Nelson Freire lange Zeit weiterhin "das bestgehütete Geheimnis des Klaviers", wie oft geschrieben wurde, das nur Pianisten und dank einiger glanzvoller Aufnahmen an zwei Klavieren mit Martha Argerich, wie etwa Rachmaninows Suite Nr. 2, Brahms' Variationen über ein Thema von Haydn, Ravels Valse oder auch Witold Lutosławskis Paganini-Variationen wenigen Liebhabern bekannt war. Freires Scheu, sich selbst zu exponieren und bekannt zu machen, haben seine Karriere, die er nicht wirklich anstrebte, gebremst. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts brachte ein Vertrag mit Decca den brasilianischen Pianisten mit einer überaus erfolgreichen Aufnahme von Werken von Frédéric Chopin ins internationale Rampenlicht. Aus diesem letzten Lebensabschnitt stammen seine erfolgreichsten Aufnahmen. Sie verbinden erfüllte, innere Reife mit unvergleichlicher Klangschönheit, die einzufangen und in ihrer ganzen Fülle wiederzugeben den Toningenieuren von Decca hervorragend gelungen ist.

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