Wilhelm Kempff (1895-1991), Künstler aus einer anderen Zeit, glaubte an die Inspiration: Er war zur Musik gekommen wie zu einer Religion, mit respektvoller Leidenschaft für die alten Meister, denen er diente. Die Kunst von Wilhelm Kempff – sein samtweicher Anschlag, sein Sinn für Phrasierung und sein erzählerischen Vortragsweise – war die eines Tagträumers, halb Dichter, halb Seher, in einer Zeit, als der Ausdruck der Gefühle Vorrang hatte vor allem anderen. Er zeichnete seine Lieblingskomponisten oft wiederholt auf, insbesondere den von ihm vergötterten Beethoven, mit dem er so oft identifiziert wurde. Von dessen Sonaten hinterließ er drei, jeweils zu einem anderen Zeitpunkt seiner persönliche Reife und der Entwicklung der Aufnahmetechnik realisierte Gesamtaufnahmen.

Als Sohn eines Komponisten und Titularorganisten an der Potsdamer Nikolauskirche, war Wilhelm Kempff von Geburt an von Musik umgeben und verstand ihre Sprache noch bevor er sprechen lernte. In seinen 1951 veröffentlichten Kindheitserinnerungen „Unter dem Zimbelstern“ erzählt Kempff mit wahrem literarischen Talent und in einem reizenden, altertümlichen Stil, wie die Hingabe an die Musik mit der Religiosität dieses lutherischen Vaters verschmolz. In der Familie wurde nur über Musik gesprochen, die auf so natürliche Weise praktizierte wurde wie atmen. Kempff, selbst Organist, sollte sich sein ganzes Leben lang an den tiefen Orgelton erinnern, der das schmächtige Kind zur Musik gebracht hatte. Unter dem wohlwollenden Blick seines Vaters und dem strahlenden Lächeln seiner Mutter begann er, Orgel und Klavier zu lernen, bevor er zwei Stipendien erhielt, die es ihm ermöglichten, im Alter von 9 Jahren in die Hochschule für Musik in Berlin einzutreten. Am Ende des Ersten Weltkriegs trat er mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung des legendären Arthur Nikisch als Solist in Beethovens 4. Klavierkonzert auf. Mit 24 Jahren begann der junge Wilhelm Kempff eine der glanzvollsten Karrieren des 20. Jahrhunderts.

Johann Sebastian Bach war offensichtlich die Leitfigur der ganzen lutherischen, musikalischen Familie. In der Familie Kempff waren Präludien, Fugen und Choräle das tägliche Brot von Vater und Sohn. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieser Komponist Wilhelm sein ganzes Leben lang, zuerst als Organist und dann als Pianist begleitete. Am Ende seiner Karriere schloss er den Kreis, indem er die Präludien der Choräle (oft in eigenen Transkriptionen), die Suiten sowie die Goldberg-Variationen, die damals noch nicht in Mode waren, aufzeichnete. Kempffs Aufnahme ohne Verzierungen oder Wiederholungen erscheint uns heute karg, ja sogar streng, obwohl sie von einer gewissen Romantik geprägt ist. 1980 veröffentlichte er seine letzte Aufnahme mit Auszügen aus dem Wohltemperierten Klavier.

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